„Wir müssen uns entschuldigen“

Sie würden die Sportberichterstattung radikal verändern, sagten Sie kürzlich der Münchner „tz“. In welche Richtung sollte es denn gehen?

Hajo Seppelt: Wir sollten ganz einfach vielleicht mal über die Art und Weise nachdenken, wie wir den Sport in den Medien darstellen. Ich glaube, wir können uns nicht in die Tasche lügen: Das Rekordstreben im Hochleistungssport ist ganz einfach endlich und lässt sich in einigen Sportarten offenbar nur noch mit kriminellen Machenschaften ausbauen. Dieses ständige Hinarbeiten auf neue Rekordleistungen provoziert vor allem das, was derzeit in krasser Form deutlich wird und wir doch eigentlich gar nicht gutheißen können: Menschen setzen ihre Gesundheit – wenn nicht sogar ihr Leben – aufs Spiel und sind bereit, unter Einsatz aller möglichen Mittel und Methoden alles für den ökonomischen Erfolg im Sport zu tun. Und wir schauen dabei auch noch zu. Diese Rekordfokussierung ist ein Problem. Ein kleiner Schritt, um davon wegzukommen, könnte sein: Die im TV während eines Rennens üblicherweise mitlaufende Zeitmessung sowie Zwischenzeiten und Rekordvergleichszeiten beispielsweise bei Leichtathletik oder Schwimmen phasenweise oder ganz auszublenden.

Das meinen Sie doch nicht ernst?

Dieser Gedanke ist für manche Fernsehmacher sicher abwegig oder revolutionär – je nach Betrachtungsweise. Aber wenn man zwei, drei Mal darüber nachdenkt, kommt man vielleicht zu der Überlegung, dass einiges dafür spricht. Den Blick des Zuschauers nicht auf diese Rekordhatz, sondern in eine andere Richtung zu lenken, darum geht es mir. Wenn man den Kulturbegriff Sport betrachtet, geht es im sportlichen Wettbewerb im Kern doch allein um eines: dass sich Menschen miteinander messen. Dieses Kräftemessen zwischen den Athleten, der Wettkampf an sich, macht das eigentliche Wesen des Sports aus. Das erleben wir zum Beispiel beim Fußball, einem Sport, in dem es naturgemäß keine Welt- und Europarekordzeiten gibt. Und trotzdem fasziniert das Duell zweier Mannschaften die ganze Welt. Wenn man den Fokus in einigen Sportarten wieder darauf lenkt, was zwischen den Akteuren passiert und weniger, ob jemand in der Lage ist, einen Weltrekord zu schwimmen oder zu laufen, wäre einiges erreicht. Der eigentliche Wettkampf würde in den Vordergrund rücken. Der Fernsehzuschauer – und das ist ja in aller Regel ein Millionenpublikum – wird schnell sehen, dass ein Wettkampf ohne Weltrekord-Fokussierung sehr interessant sein kann. Und das hilft dem Sport.

Vor ein paar Jahren wurde etwa in Ihrem Fachmetier, dem Schwimmen, diese virtuelle rote Linie eingeführt …

Ich fand das ehrlich gesagt damals auch gut und einen bemerkenswerten technischen Fortschritt bei Übertragungen. Wir dachten alle, damit würden wir dem Zuschauer endlich eine Orientierung geben, wie nah ein Athlet an den Weltrekord heranschwimmt. Es ist aber leider so, dass der Zuschauer seitdem vor allem darauf guckt, ob der Sportler den Weltrekord schafft oder nicht. Und ich glaube nicht, dass das der richtige Weg ist, wenn wir gleichzeitig Doping bekämpfen wollen und wissen, dass der Rekordwahn die Dopingversuchung geradezu provoziert. Ich denke jetzt, dass diese rote Linie ein Fehler ist. Einige Kollegen werden womöglich die Nase rümpfen. Ich halte die Zeit aber reif für Denkanstöße.

Bisher wurden Kollegen, die wie Sie etwas am System anprangerten, als Nestbeschmutzer abgestempelt.

Ich glaube, dass es mehr Leute gibt, die unsere Arbeit jetzt ande rs einschätzen, als das früher der Fall war.

Nach dem Auftritt von Zabel und Aldag haben Sie in den „Tagesthemen“ kommentiert – und dabei auch einen Großteil der Sportjournalisten zu einer Entschuldigung aufgefordert. Wie meinten Sie das?

Ich habe gesagt, dass wir uns als Sportjournalisten, als Berufsstand entschuldigen müssen. Viele von uns haben über Jahre beim Thema Doping nicht richtig hingeschaut, manche von uns wollten dies offenbar auch nicht oder haben sogar etwas gewusst, ohne es öffentlich zu machen. Damit haben wir dem Zuschauer, Hörer oder Leser einen falschen Eindruck vom Sport vermittelt.

Das heißt also, einige Kollegen haben Informationen bewusst unterschlagen?

Zugespitzt könnte man das so sagen, ja.

In welcher Ecke vermuten Sie solche Kollegen?

Entgegen dem landläufigen Eindruck war das nicht nur auf Fernsehleute beschränkt. Menschen, die ahnten oder wussten, gab es überall. Ich glaube, dass ein Großteil der Kollegen auf einem Auge blind war und das andere zugehalten hat.

Aber sind denn nun wirklich Journalisten das Problem oder ist das nicht etwa systembedingt?

Wenn sich Journalisten als Teil des Systems betrachten, dann ist das systembedingt.

Nehmen wir den gängigen Vorwurf, Sportberichterstattung sei kein journalistisches Produkt, sondern Teil der Unterhaltung.

Da stellt sich die Frage, warum wir den Sport eigentlich dramaturgisch erhöhen müssen, obwohl er vom Wesen her schon unterhaltsam ist. Die Dramaturgie eines Wettkampfes ist per se schon eine Form der Unterhaltung. Ich finde es zwar richtig, dass für Live-Sport Quote ein Kriterium sein sollte. Die Sendezeiten in den attraktiven Hauptprogrammen sind schließlich heiß begehrt, auch von anderen Ressorts. Sonst kann man mit gutem Recht auch Kultur-oder Bildungsprogramme senden. Wir sollten dann aber so ehrlich sein und den Live-Sport auch so darstellen und benennen, wie er wirklich ist. Das heißt zunächst, eine Live-Übertragung ist per se eine Darstellungsform des Journalismus, sicher auch des „unterhaltsamen“ Journalismus. Es gehört aber dazu, dass wir den Leuten sagen: von den Leuten, die gerade die 100 Meter laufen, wurden sechs im vergangenen Jahr positiv auf Doping getestet. Und wir müssten aufklären, wenn Veranstalter offensichtlich zu wenig in Kontrollen investieren und Systeme Lücken haben und damit Betrug erleichtern.

Hat man das jetzt begriffen?

Man begreift es jetzt zumindest mehr. Bei vielen Journalisten gab es überhaupt erst einmal einen Aha-Effekt. Bei der Telekom-Pressekonferenz in Bonn hat man ja auf der einen Seite eine sehr starke Nähe von einigen langjährigen Radsportjournalisten gespürt, gleichzeitig aber auch ein Entsetzen. Einige konnten oder wollten das alles offenbar kaum glauben und haben sich gefragt, was sie selbst denn eigentlich jahrelang gemacht haben. Bei vielen Journalisten bleibt nach den Erkenntnissen der vergangenen Wochen also sicher ein fahler Nachgeschmack haften, was ihre eigene berufliche Tätigkeit über viele Jahre betrifft. Manche wie gesagt werden aber auch genau wissen, dass sie zeit ihres Berufslebens die Wahrheit verschwiegen haben.

Und schon sind wir bei den sogenannten Fan-Journalisten angekommen, Kollegen also, die Jens Weinreich als Kopf des Sportnetzwerks als „Fans, die es hinter die Absperrung geschafft haben“ beschreibt.

Diese Leute gibt es leider immer noch. Einige schmücken sich ja etwa damit, ein Bayern-Fan zu sein und gleichzeitig über die Bayern zu berichten. Ist das eine gute Visitenkarte? Ich glaube nicht. Was habe ich denn mit irgendwelchen Managern zu tun? Nichts. Die sind nur Teil meiner Berichterstattung und sonst nichts. Das ist aus meiner Sicht der Kern der Probleme unseres Berufsstandes. Der Vorsitzende des Deutschen Sportjournalisten-Verbandes, Erich Laaser, spricht von „kritischer Solidarität“. Ich verstehe nicht, warum ich mit den Verbänden und Sportlern solidarisch sein soll. Käme ein Hauptstadtkorrespondent in Berlin etwa auf die Idee, öffentlich eine „kritische Solidarität“ mit Politikern zu proklamieren?

Die ARD hat Sie ja im vergangenen Jahr noch aufs Abstellgleis gestellt, etwa von der Schwimm-WM abgezogen. Offenbar waren Sie manchen Leuten zu kritisch. Mit der aktuellen Affäre sind Sie dann aber flugs der Kopf der ARD-Berichterstattung geworden. Fühlen Sie Genugtuung?

Ich bin gerne Journalist. Mein Beruf macht mir ganz einfach Spaß und ich bin neugierig. Und wir lernen in der letzten Zeit i
mmer mehr über den Sport. Das war vor einem Jahr noch ganz anders. Deshalb bin ich natürlich zufriedener, als ich das noch vor einem Jahr war, keine Frage.

Nüchtern betrachtet sind Sie aber schon ein Profiteur der ganzen Affäre.

Der ganze negative Stress hatte ein Ende, das ich so vor einem Jahr kaum für möglich gehalten hätte. Damit war nicht zu rechnen.

Jetzt sind Sie also Teil der neuen ARD-Doping-Redaktion. Ist die aber wiederum nicht nur Teil eines Hypes und wird in einem halben Jahr sang- und klanglos wieder eingestellt?

Das halte ich für ausgeschlossen. Im Gegenteil: Ich glaube, dass überall in Deutschland die Erkenntnis reift, dass man im Sport den Journalismus stärken muss und ihn ja nicht wieder schwächen darf. Und das, was in den vergangenen Wochen passiert ist, ist ja schon ein Schritt auf diesem guten Weg.

Früher waren Sie ein Bittsteller für Themen rund um Sportpolitik und vor allem Doping. Können Sie denn inzwischen machen, was Sie wollen?

Natürlich ist früher gelegentlich der Eindruck entstanden, dass man diese Themen wie „sauer Bier“ anbieten musste, obwohl die Fakten klar auf der Hand lagen. Unserem Wort wird jetzt aber glücklicherweise sehr viel mehr Gehör geschenkt. Und der Mut, auch mal mit solchen Themen in die Offensive zu gehen, ist heute viel stärker ausgeprägt.

Auf wie viele recherchierende Kollegen stoßen Sie eigentlich, wenn Sie dieser Tage unterwegs sind?

In Deutschland gibt es nach meinem Eindruck derzeit rund zwei Dutzend Kollegen, die in Dopingthemen besonders intensiv recherchieren. Vor allem „SZ“ und „FAZ“ machen seit vielen Jahren auf die Missstände des Sportsystems aufmerksam, dazu gesellen sich nach meinem Eindruck insbesondere „Berliner Zeitung“, „Welt“, „Stuttgarter Zeitung“ und „Tagesspiegel“. Im Hörfunk ist es vor allem der Deutschlandfunk. Und die beim WDR angesiedelte ARD-Doping-Redaktion trägt ihren Teil bei. Auch das ZDF hat aufgestockt.

Sind das Kollegen, die auch nach Monaten noch dabei bleiben werden? Oder verschwindet das Thema bald wieder von der Agenda?

Die wenigen, die es über Jahre taten, werden ganz sicher dabeibleiben. Um die Entwicklung insgesamt zu beurteilen, ist noch nicht genug Zeit vergangen. Aber ich glaube: Jetzt haben Sportjournalisten eine Chance. Und mein Wunsch ist so klar wie einfach: Stellt Leute ab, die dafür ausgebildet werden und eigens dafür da sind, die Geschichten zu machen, die wir brauchen. Und stellt vor allem das Geld dafür bereit. Aufwendige Recherche kann zwar teuer werden, aber für eine vertiefende Berichterstattung ist sie ganz einfach nötig. Viele, vor allem kleinere Sportredaktionen besonders von Regional- und Lokalzeitungen haben hier vermutlich leider Nachteile, weil sie gar nicht die Geldmittel für das Personal aufbieten können, um rechercheaufwendigen Sportjournalismus zum Beispiel mit Dienstreisen zu finanzieren. Aber selbst auf lokaler und regionaler Ebene, also beim „Verein um die Ecke“, können Journalisten manche spannende Story finden, wenn sie es wollen.

Befürworten Sie eigentlich, dass trotz der Geständnisse und laufenden Ermittlungen im Radsport die Tour von ARD und ZDF ausgestrahlt wird?

Doping ist nicht nur ein Problem des Radsports, sondern Systemzwang des von massiven ökonomischen Interessen geleiteten Hochleistungssports. Immer wieder – seit Jahrzehnten – werden Einzelfälle groß aufgebauscht und oft mit medialer Empörung begleitet. Dann verschwinden sie aber wieder in der Versenkung und es folgt die Rückkehr zur Tagesordnung – bis die nächste Dopingsau durchs Dorf getrieben wird. Aber es reift endlich die Erkenntnis, dass Doping kein „Schwarzer-Peter-Spiel“, sondern ein strukturelles Problem des Spitzensports ist. Beim Radsport zeigt sich das derzeit besonders deutlich. Nicht nur bei der Tour, sondern allgemein im Radsport ist zu viel über die Dopingseilschaften bekannt, aber vergleichsweise zu wenig vonseiten des organisierten Sports geschehen. Denken Sie allein an die jüngsten Ereignisse und den noch immer nicht aufgearbeiteten Dopingskandal um den europaweit agierenden mutmaßlichen Dopingdrahtzieher Fuentes aus Spanien. Die meisten involvierten Radprofis sind bis jetzt sport- und strafrechtlich unbehelligt geblieben.

Und die Konsequenz?

Wir müssen ehrlich sein und leider zugeben, dass wir mit Radsportsendungen auch Sportbetrug live übertragen. Auch wenn ich der Tour-Organisationsgesellschaft A.S.O. glaube, dass sie gerade viel tut, ändert das nichts daran, dass der Radsport chronisch krank ist. Die Abwägung, die von den Senderverantwortlichen getroffen werden muss, ist also, ob die Bemühungen der Radsport-Organisatoren gegen Doping honoriert werden und dabei in Kauf genommen wird, eine noch immer kranke Sportart zu übertragen. Sollte man das nicht machen, wäre der ökonomische Druck etwa seitens der Sponsoren so groß, dass so ein Sportereignis in seiner Existenz bedroht wäre. Dann würde das in jedem Fall so ernsthafte Bemühungen im Kampf gegen Doping provozieren, wie es sie noch nicht gegeben hat.

Also gut: ARD und ZDF wollen bei der diesjährigen Tour de France den Veranstaltern und Sportlern jetzt gründlich auf die Finger schauen. Wie wird sich die Berichterstattung von den Vorjahren unterscheiden?

In Federführung des Saarländischen Rundfunks wird die ARD nach derzeitigem Stand in jeder Sendung dopingspezifische Themen behandeln, davon auch einige, die abseits der Tour de France die Gesamtproblematik Doping beleuchten. Dafür sind sehr interessante Experten als Interviewpartner vorgesehen. Und wir werden sehr genau beobachten, wie effektiv und umfassend Dopingkontrollen bei der Tour ablaufen.

Im nächsten Jahr steht eine Fußball-Europameisterschaft an. Bisher war Doping im Fußball tabu. Zu Recht?

Das Thema kommt – da bin ich ganz sicher. Ich habe ja gesagt, dass mehr Journalisten in Deutschland zum Doping recherchieren. Und dabei wird der Fußball endlich auch in den Fokus rücken.

Und wie wird das bei den Olympischen Spielen in China gehandhabt? Das Land hat schon vor Jahren ganze Kaderschmieden eingerichtet. Da dürften wir das Doping doch förmlich schon bis hierhin riechen können, oder nicht?

Ich weiß, dass derzeit in vielen Redaktionen das Thema China und Doping ganz oben auf der Agenda steht. Auch bei uns gibt es einige konkrete Programmüberlegungen dazu. Sie können ganz sicher sein, dass spätestens ab Herbst dieses Thema in der Vorberichterstattung auf die Olympischen Spiele in vielen Medien eine zentrale Rolle einnehmen wird. Die Sensibilisierung für die gesamte Dopingthematik hat außerdem nicht nur bei uns Journalisten, sondern auch beim Publikum zugenommen.

Das vollständige Interview mit Hajo Seppelt, in dem er sich auch zur Ausbildung von Sportjournalisten äußert, ist abrufbar unter www.mediummagazin.de, Rubrik „downloads“

Erschienen in Ausgabe 7/2007 in der Rubrik „Titel“ auf Seite 20 bis 23 Autor/en: Interview: Daniel Bouhs. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.