Mit den Augen der Leser

Ich brauche keine großformatigen bunten Bilder“, schimpft eine Leserin der „Frankfurter Rundschau“ im Blog von FR-„Leserversteher“ Bronski über das Layout des neuen Kompaktformats. Ein anderer Leser sieht seine Zeitung zum „Bilderbuch mit weißen Flächen und ab und zu Text zwischendurch“ verkommen. Ist es also nur der Artikeltext, der die Zeitung in den Augen der Leser wertvoll macht? Taugen Kompaktformate nur für Boulevard-Konzepte?

Kompakt ist nicht gleich Kompakt. Der Zeitungsdesigner Mario Garcia sieht die „Tabloidisierung“ als globales Phänomen und prognostiziert, dass alle Qualitätszeitungen der Reihe nach vom Großformat zum Kompaktformat wechseln werden. Ein Blick auf die Zeitungsmärkte in Großbritannien oder Skandinavien stützt seine Aussage: Dort sind die meisten wichtigen Zeitungen bereits auf das kleine Format umgeschwenkt. In anderen Ländern, etwa in Spanien, sind die Kompakten schon lange der Standard. In Deutschland steht die „Frankfurter Rundschau“ mit ihrem Abschied vom Broadsheet unter den Qualitätszeitungen noch alleine da.

Das Kompaktformat wird hier bisher vor allem für kostenlos verteilte Pendler- und Anzeigenzeitungen oder zielgruppenorientierte Ableger wie „20Cent“ oder „Welt Kompakt“ genutzt. Dies ist einer der Gründe dafür, warum die Debatte um das Kompaktformat unter falschen Vorzeichen geführt wird: Ob eine Zeitung im großen oder kleinen Format erscheint, hat zunächst nichts mit ihrer publizistischen Qualität zu tun.

Keine Vorurteile. Mit einer Blickaufzeichnung haben wir analysiert, wie Leser tatsächlich mit dem Format umgehen, wie sie sich in der Zeitung orientieren, was sie lesen- und was sie ignorieren. Um die Frage nach unterschiedlichen Formaten und publizistischen Konzepten beantworten zu können, wurden die Broad-sheet-Zeitung „Die Welt“ und die Kompaktausgabe „Welt Kompakt“ verglichen. Untersucht wurde das Leseverhalten über eine komplette Ausgabe hinweg sowie die Nutzung von Einzel- und Doppelseiten. Eine wichtige Erkenntnis: Nicht das Format bestimmt vorrangig das Leseverhalten, sondern Gestaltung und Themenauswahl der Zeitung. Aber auch das: Das Kompaktformat eignet sich besonders gut für eine übersichtliche und damit leserfreundliche Aufbereitung. Die Annahme, die Kompaktzeitung sei ein Medium für verkürzte oder boulevardeske Themenaufbereitung und damit für oberflächliche Leser, wird durch die Studie nicht bestätigt – im Gegenteil.

Die Untersuchung belegt, dass Leser diese Vorurteile gegenüber den Kompakten überwiegend nicht teilen: Sie trennen genau zwischen dem Format einer Zeitung und ihren Inhalten. Geht es nur um das Format, ist das Votum der Leser eindeutig: Von den 42 Teilnehmern der Studie sprachen sich 30 für das Kompaktformat aus, nur vier sagten, sie würden das Broadsheet bevorzugen, neun waren unentschieden oder äußerten sich nicht. Leser schätzen das Kompaktformat aber nicht nur wegen seiner Handlichkeit, sondern auch wegen der Übersichtlichkeit und Transparenz. Wie der Inhalt einer kompakten Zeitung aussehen soll, darüber gehen die Meinungen auseinander: Neun der Testteilnehmer würden gerne die Inhalte der „Welt“ im Kompaktformat lesen, eine größere Gruppe von 21 würde sich für die „Welt Kompakt“ in der jet-zigen Form entscheiden.

Kompaktformate als Lesezeitungen. Die Befunde zur Lesezeit und zur Nutzung von Orientierungselementen wie Überschriften, Teaser, Kurzmeldungen zeigen als Trend einen auf den ersten Blick nicht wirklich überraschenden Befund: die Kompaktausgabe wird stärker zum Überblickslesen, die Broadsheet-Ausgabe stärker zum vertiefenden Lesen genutzt. Vergleicht man die Leseleistung, so lassen sich insgesamt drei Typen von Lesern unterscheiden:

* Den Typus des Intensivlesers, der mehr als 50 Prozent seiner Beschäftigungszeit mit einer Zeitungsseite zum Lesen aufwendet,

* der Anleser, der zwischen 20 und 50 Prozent der Zeit und

* der Scanner, der weniger als 20 Prozent seiner Nutzungszeit mit Lesen verbringt.

Auf die Titelseite bezogen, sind im Broadsheet etwa 2/3 der Leser Intensivleser, während in der Kompaktausgabe über 60 Prozent der Leser zu den Scannern und den Anlesern gehören. Differenziert man allerdings die Befunde zur Nutzungsintensität für einzelne Seiten, so wird deutlich, dass auch das Kompakt-Format bei entsprechender Aufmachung als Intensivlesemedium funktioniert:

Dieselben Inhalte von Text, Grafik und Fotos zum Thema Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin erreichen in der Kompakt-Ausgabe bedeutend höhere Lesequoten als in der Broadsheet-Ausgabe (siehe Abbildungen auf dieser Seite).

Um größere Geschichten zu präsentieren, nutzen Kompaktzeitungen Doppelseiten.

Diese Gestaltungsvariante kommt beim Leser an: Doppelseiten werden in der Kompaktzeitung als Einheit wahrgenommen, der Mittelfalz ist keine Hürde.

Aber auch die Aufmerksamkeitswerte und die Lesequoten sprechen eine deutliche Sprache: Horizontal präsentierte Themenpakete auf Kompakt-Doppelseiten finden deutlich mehr Beachtung als vertikal aufbereitete im Broadsheet.

Mit den Mitteln des Layouts lässt sich auch einer weiteren Eigenart des Kompaktformats begegnen: Kompaktzeitungen bestehen nicht aus einzelnen Büchern. Der Leser kann die Blattstruktur also nicht „erfühlen“. Mario Garcia empfiehlt deshalb, sogenannte „destination pages“ mit hervorgehobenem Layout einzubauen, um dem Leser optisch die Gliederung der Zeitung zu vermitteln. In der „Welt Kompakt“ erfüllen die Aufmacherseiten der Ressorts diese Funktion-erfolgreich, wie die Blickaufzeichnung belegt: Die Seiten sind Aufmerksamkeitsanker und bekommen die höchste Beachtung innerhalb der Ressorts. Nahezu alle Ressort-Aufmacher-Seiten werden überdurchschnittlich lange gelesen (siehe auch oben stehende Grafik).

Lesepfade und Aufmerksamkeitsökonomie. Auf jeder Zeitungsseite entscheiden Leser neu, welche Bilder und Texte sie wie intensiv und in welcher Reihenfolge anschauen. Dabei folgt der Blick nicht, wie lange angenommen wurde, einem festen Schema wie etwa einer umgekehrten S-Kurve. Die Orientierung, das Scannen der Seite, ist auch kein reines Attraktions-Hopping von einem optisch hervorgehobenen Element zum nächsten.

Der Leser folgt vielmehr einem Art Zonenprinzip: Anhand der Grundstruktur einer Seite zerlegt er sie in verschiedene Zonen, die er nacheinander erkundet. Wie diese Mustererkennung ausfällt, entscheidet das Layout: Ein modularer Umbruch mit klarer Seitenstruktur und klaren Zuordnungen von Texten und Bildern erleichtert die Identifikation von Zonen und erhöht die Lesequoten für Texte.

Das gilt für beide Formate – allerdings erleichtert das Kompaktformat die Musterkennung: Es sind weniger Elemente auf einer kleineren Fläche, die die Leser zu ordnen haben. Dementsprechend ist die relative Aufmerksamkeit für einzelne Elemente – auch für Anzeigen – im Kompaktformat oft höher.

Erschienen in Ausgabe 8/2007 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 28 bis 31 Autor/en: Hans-Jürgen Bucher, Peter Schumacher. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.