„Spiegel online“-Zeitgeschichte 2.0

Gerechnet hatte damit niemand: Mit Humor landet „Spiegel Online“ einen bemerkenswerten Treffer. Seit fast einem Jahr verantwortet der ehemalige „Titanic“-Chef Martin Sonneborn die Satire-Seite „Spam“ auf „Spiegel Online“ und inzwischen verzeichnet allein diese Seite 5,6 Millionen Klicks im Monat. Jetzt erweitert „Spiegel Online“ sein Angebot erneut, diesmal um die Rubrik Zeitgeschichte. Im märchenhaft anmutenden Ressort „Eines Tages“ sollen ab September geschichtsinteressierte Laien eigene Bilder, Videos und Texte auf die Seite laden können. „Wir wollen eine kollektives Geschichts-Gedächtnis schaffen“, sagte Wolfgang Büchner, stellvertretender Chefredakteur von „Spiegel Online“, der das Projekt verantwortet.

Mit „Eines Tages“ reiht sich Spiegel Online“ in die Angebote des Mitmach-Internets ein, „YouTube“, „Flickr“ und „Myspace“ sind bekannte Beispiele. Sie stehen aber auch für unkontrollierte Inhalte, besonders bei Urheber- und Persönlichkeitsrechtsfragen. Die „Eines Tages“-Erfinder wollen diesem Phänomen mit Kontrolle begegnen: „Eine eigene Redaktion prüft jeden Beitrag vor der Veröffentlichung und schaltet ihn dann frei“, sagt Mathias Müller von Blumencron, Chefredakteur von „Spiegel Online“.

Den Begriff „Zeitgeschichte“ legen die „Eines Tages“-Macher sehr weit aus. Die Gründungsstunde von Tokio Hotel gehört nach ihrem Verständnis genauso dazu wie der deutsche Herbst oder der Zweite Weltkrieg. „Ich bin am 9. November 1989 als einer der Ersten über den Grenzübergang Bornholmer Straße gegangen. Hat jemand ein Video davon?“, könnte – so die Seiten-Erfinder – eine mögliche Frage sein, bei deren Beantwortung sich die Nutzer gegenseitig helfen können. „Lebendige Zeitgeschichte erzählt sich am besten im Dialog mit denen, die sie erlebt haben“, sagt Wolfgang Bücher und genau hier liegt vermutlich auch das Problem der Idee: Eine wirkliche Kontrolle der Nutzer-Beiträge kann die Redaktion nicht leisten. Natürlich versuchen sich die Macher abzusichern: Als Kooperationspartner nennen sie große Namen: „Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz“ und das „Filmarchiv der Deutschen Wochenschau“. Doch deren Mitarbeiter werden nicht das kostenlose Kontroll-Organ der Line-Extension von „Spiegel Online“ werden. Auch die berühmte Dokumentation des gedruckten „Spiegel“ soll nur „in Einzelfällen“ bemüht werden.

Am Anfang soll „Eines Tages“ werbefrei erscheinen, sich aber dann über Bannerwerbung finanzieren. Das „Eines Tages“-Team ist bislang noch klein, soll aber ab Herbst erweitert werden. Geschichtsinteressierte Journalisten auf Jobsuche sollten sich die Namen der „Eines Tages“-Entwickler Hans-Michael Kloth und Florian Harms merken. Jochen Brenner

Erschienen in Ausgabe 8/2007 in der Rubrik „Kurz & Bündig“ auf Seite 8 bis 8. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.