Russland
„Schrei, so laut du kannst!“
Stefan Scholl, Moskau
Eine Hand wäscht die andere, auch in Russland. Kürzlich lieferte mir ein Moskauer Bauunternehmer Informationen über die Korruption in der Branche. Und bat mich im Gegenzug, für seine 13-jährige Tochter Nastja ein paar Texte der Band „Tokio Hotel“ ins Russische zu übersetzen … „schrei! so laut du kannst“, die deutsche Teenager-Gruppe hat auch Russ-lands Jugend erobert. Die Karten für ihr Konzert Ende September in Moskau sind ausverkauft, auf russischen Fan-Sites diskutieren Mädchen mit Kriegsnamen wie „SchwarzEngel“, ob ihre Idole davon wissen, dass sich Verehrerinnen wegen ihnen umgebracht haben. Tatsächlich hieß es nach dem jüngsten Doppelselbstmord zweier Schülerinnen in einer Moskauer Vorstadt, die beiden hätten „Tokio-Hotel“ gehört, bevor sie gemeinsam aus dem Hochhausfenster gesprungen seien. „Schrei! und wenn es das letzte ist“… beim Übersetzen habe ich überlegt, ob dieses neugermanische Protestgeschrei auch Nastjas Psyche gefährlich werden könnte. „Unsinn“, sagt ihr Vater, „wir haben ja auch die Lieder von, Rammstein‘ überlebt!“
Internet: www.forum.tokiohotel.ru
Indien
„Outlook“-Büro verwüstet
Britta Petersen, Neu-Delhi
Indiens Hindu-Nationalisten schrecken nach wie vor nicht vor Gewalt zurück, um politische Gegner einzuschüchtern. Das Büro des renommierten Magazins „Outlook“ in Bombay wurde am 15. August verwüstet, nachdem es einen Artikel veröffentlicht hatte, in dem der Chef der in Bombay regierenden Partei Shiv Sena, Bal Thackeray, mit Hitler-Bärtchen abgebildet wurde. Das Magazin bezeichnete Thackeray in dem Text als „Schurken“, nachdem zuvor eine Untersuchungskommission zu dem Ergebnis gekommen war, dass Thackeray 1993 daran beteiligt war, anti-muslimische Pogrome anzuheizen, bei denen 900 Menschen ums Leben kamen. Laut Berichten der anwesenden Redakteure stürmten zehn Männer die Redaktion, randalierten und drohten mit weiteren Angriffen. „Die Shiv Sena Aktivisten haben noch nicht einmal versucht, ihre Identität zu verbergen“, sagte „Outlook“-Chefredakteur Vinod Mehta. Dies zeigt, dass die Randalierer keine Angst davor haben, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Bereits Anfang des Jahres konnte ein Film, der sich kritisch mit einem 2002 von Hindu-Nationalisten angezettelten Massaker an Muslimen im Bundesstaat Gujarat auseinandersetzt, nicht ausgestrahlt werden, weil Schlägertrupps der Partei die Kinobesitzer bedroht hatten. Der Verlegerverband bezeichnete das Vorgehen der Shiv Sena im Bombay als „direkten Angriff auf die Pressefreiheit“.
Internet: www.outlookindia.com
Australien
Aborigines ab vor’n Fernseher
Julica Jungehülsing, Sydney
Der Startschuss war laut: Als „Australiens erstes nationales Aborigine und Torres Strait Islander Fernsehen“ ging Ende Juli „Nitv“ auf Sendung. In Farbe und mit Gala. Premier John Howard war das neue „National Indigenous TV“ kurz vor den Wahlen 50 Millionen australische Dollar (30 Mio. Euro) wert. Die Idee: Ureinwohnfernsehen rund um die Uhr – Neues, Sport, Drama, Spaß und Dokus von und mit Aborigines für Aborigines und das übrige Australien. Denn der Sender soll nicht nur „blackfellas“ ansprechen. Er will zugleich weiße Mehr- und schwarze Minderheit einander näher bringen (die 450 000 Ureinwohner machen in Australien etwa 2 % der Bevölkerung aus). Kleiner Schönheitsfehler: „Nitv“ ist kaum irgendwo zu sehen. In den abgelegenen Regionen im Norden, Westen und in Queensland braucht man eine Optus-Aurora-Satellitenschüssel zum Empfang. Mehr als ein Drittel der Aborigines bekommt „Nitv“ jedoch gar nicht, denn die leben – wie die meisten „Aussies“ – in New South Wales und im Süden, wo die „black box“ bisher gar nicht sendet. „Nitv“ beruhigt: Auf Phase 1 des „truly national Services“ (wahrhaft nationalen Dienstes) soll der in Phase 2 besser präsent sein: vermutlich per Pay TV, was immerhin fast ein Viertel aller australischen Haushalte hat.
www.nitv.org.au
China
Zweierlei Wahrheiten
Ruth Kirchner, Peking
Die dünn besiedelte Autonome Region Xinjiang im äußersten Nordwesten Chinas ist für Journalisten kein einfaches Pflaster. Nirgendwo sonst in der Volksrepublik – mit Ausnahme Tibets – ist das chinesische Kontrollregime so straff wie hier. Immer wieder kam es vor allem in den 1990er Jahren zu Gewalttaten von Separatisten der muslimischen Minderheit der Uiguren gegen die als Besatzer empfundenen Chinesen.
Als das chinesische Außenministerium jetzt eine Gruppe Pekinger Auslandskorrespondenten einlud, Xinjiang zu besuchen, wollte man vor allem den wirtschaftlichen Aufschwung der Region demonstrieren: Neue Fabriken, die gewaltigen Gasvorkommen, gelungene Aufforstung und das touristische Potenzial der Wüsten-Region entlang der alten Seidenstraße. „Chinesen und Uiguren leben hier friedlich zusammen“, verkündeten örtliche Parteibosse. Aus uigurischer Sicht klang das meist ein bisschen anders: Die neuen Jobs gingen vor allem an zugewanderte Chinesen, so die Klage der Muslime. Offene Kritik vor laufenden Kameras traute sich aber kaum einer. Das Risiko ist offenbar zu groß. Erst kürzlich hatte der in München tagende Weltkongress der Uiguren erneut die Freilassung aller politischen Gefangenen in Xinjiang gefordert – darunter die Söhne der bekannten Dissidentin Rebiya Kadeer. Die Geschäftsfrau lebt seit ihrer Freilassung aus chinesischer Haft im Jahr 2005 im Exil in den USA. Seit Jahren kämpft sie für die Rechte der Uiguren und gegen Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang. Wegen des „Verrats von Staatsgeheimnissen“ war sie 1999 verhaftet worden. Ihr Vergehen: Sie hatte ihrem Mann Zeitungsausschnitte ins amerikanische Exil schicken wollen. Im vergangenen Jahr wurde sie für den Friedensnobelpreis nominiert und gilt auch dieses Jahr als mögliche Kandidatin.
Die Uiguren versuchen mit der Weltöffentlichkeit über das Internet zu kommunizieren, die wichtigen Chinakorrespondenten sowie Journalisten im eigenen Land erreichen sie mit ihrer Website aber kaum, denn folgende Adresse kann von China aus nicht angesteuert werden:
Internet: www.uyghurcongress.org
USA
Wiedergeburt des VJ
Matthias B. Krause, New York
Nun hat es mich also doch erwischt. Ich erinnere mich noch genau an meine wehleidigen Blicke für die Kollegen, die sich im neuen Metier des „VJ“ versuchten, des Videojournalisten. Der Gedanke, dass künftig jemand als Ein-Mann-Show produzieren sollte, wozu vorher ein Kameramann, ein Tonmann und ein Reporter notwendig waren, erschien mir einigermaßen absurd, ein Qualitätsverlust unabwendbar. Heute, zehn Jahre später, laufe ich genauso durch die Gegend. Videokamera in der Hand, Mikrofon in der Tasche, Stativ auf dem Rücken, Block und Schreiber griffbereit. Und es macht sogar Spaß. In den USA begann die Revolution schon vor fast zwei Jahren, als die Verlage anfingen, ihren Redakteuren und Fotografen Videokameras in die Hand zu drücken. Der Erfolg von „YouTube“ überzeugte die Verleger über Nacht, dass ihre Zukunft an ihrer Fähigkeit hinge, bewegte Bilder ins Netz zu stellen. Mittlerweile machen „Washington Post“ und „New York Times“ vor, wie man im Internet Qualitätsjournalismus produzieren – und sich dabei ganz neue Dimensionen des Storytelling auftun. In Deutschland beginnen meine ersten Kunden, sich auch für Videostücke zu interessieren, obwohl bislang die Wünsche meistens größer sind als das Budget. Alte Weisheiten aber haben auch bei neuen Medien Gültigkeit: Qualität kostet Zeit und Zeit kostet Geld.
Internet: www.multimedia-reporter.net
Dänemark
Kapitaler Fehler
Clemens Bomsdorf, Kopenhagen
Deutsche Touristen und Journalisten, die sich nur kurz in Nordeuropa aufhalten, meinen zu wissen, welches die wichtigste Stadt Nordeuropas ist: Stockholm natürlich – „The Capital of Scandinavia“. Mit dem einprägsamen Werb
eslogan jedenfalls werden die Stockholm-Gäste auf dem Hauptstadtflughafen Arlanda empfangen. Der Streit zwischen Kopenhagen und Stockholm, welche Stadt denn nun die wichtigere in Nordeuropa sei, schwelt schon eine ganze Weile. Beide Hauptstädte verkaufen sich gerne als Metropolen mit zwei Millionen Einwohnern und verschweigen, dass damit jeweils der Großraum gemeint ist, die eigentlichen Städte haben grob so viele Einwohner wie Frankfurt. Stockholm aber, so kürzlich eine Touristenführerin während einer Stadtrundfahrt, habe den zweitgrößten Flughafen Europas. Sie ging weder darauf ein, welcher Flughafen noch größer ist, noch wie denn die Größe gemessen wurde. Am Passagieraufkommen sind ganz klar nicht nur Frankfurt und Heathrow größer. Vermutlich unterlag sie dem Syndrom, dem Statistiker kleiner Länder häufig unterliegen, wenn sie einen Superlativ suchen: sie relativierte einfach. Vielleicht ist Stockholm der größte europäische Flughafen gemessen an den Rasenflächen auf dem Gelände oder bezogen auf die Einwohnerzahl in der Altstadt. Die Kopenhagener machten unterdessen gemeinsame Sache mit den Südschweden und gaben der Öresundregion, die sie gemeinsam bilden, den Beinnamen „The Human Capital of Scandinavia“. Einerseits ein weiterer alberner Beitrag in Sachen Relativierung, andererseits schwingt Ironie mit und für die Ökonomen unter den Reisenden bleibt die Doppeldeutigkeit.
Internet: www.oresundsregionen.org
Weltreporter
Serie: Die Nachrichten rund um den Globus aus verschiedenen Ländern werden regelmäßig im „medium magazin“ veröffentlicht. Die Autoren sind Mitglieder von Weltreporter.net. Homepage: www.weltreporter.net, eMail: cvd@weltreporter.net.
Erschienen in Ausgabe 10/2007 in der Rubrik „Weltreport“ auf Seite 16 bis 79. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.