Neuland im Westen

Auf dem Weg zum „Westen“ lassen noch die 70er Jahre grüßen. Ein orange-braunes Tapetendesign schmückt in der Essener „WAZ“-Zentrale den Gang zum neuen Online-Newsroom. Doch wenn sich die Tür öffnet, wird auf den ersten Blick deutlich: Hier herrscht eine neue Zeit. Den hellen großzügigen Raum dominiert ein Newsdesk in hochpoliertem Dunkelrot, über dem von überall im Raum einsehbare Bildschirme gruppiert sind. 20 Redakteure arbeiten hier im Team von Katharina Borchert – noch im Probebetrieb. Mitte Oktober soll es nun losgehen, und der Erwartungsdruck ist enorm: Eigentlich sollte der „Westen“, wie das neues Internet-Portal der WAZ-Gruppe heißen wird, schon im Frühjahr starten. Außerdem muss die WAZ ja noch unter Beweis stellen, dass es sich gelohnt hat, mit Katharina Borchert eine Bloggerin gleich mit dem Rang einer Chefredakteurin ins Haus zu holen. Eine entsprechende Erfahrung, die diesen Schritt nach traditionellen Maßstäben gerechtfertigt hätte, weist ihr Lebenslauf nicht auf. Auch ein Grund, warum diese Personalie damals für Aufsehen sorgte.

Doch ein erster Blick auf das neue Portal, wenn auch noch nicht im Regelbetrieb, zeigt: Die Zeit hat sich offenbar gelohnt. Und Borchert könnte für die „WAZ“ tatsächlich ein Glücksgriff gewesen sein. Denn technisch und konzeptionell dürfte „Der Westen“ zum Start auf dem höchsten Niveau aller deutschsprachigen Zeitungsportale im Netz sein. Dafür sorgt nicht nur der Einsatz der Suchmaschinen-Technologie „Fast Search“ inklusive automatischer Verschlagwortung, sondern vor allem die konsequente Verknüpfung des eigentlichen Inhalts mit einer modernen Community, die exakt auf die Anforderungen eines Regionalportals zugeschnitten ist.

Alles vor Ort. Spielen wir doch einmal den Aufruf des „Westens“ anhand eines fiktiven Lesers durch: Zunächst wird er auf der Startseite die wichtigsten Entwicklungen aus der Welt und der Region finden, wie sie die Onlineredaktion der „WAZ“ für alle ausgewählt und sortiert hat. Über die Box „Städte-Schnellauswahl“ an der rechten Seite kann sich der Leser Nachrichten und Infos aus den einzelnen Teilen des Ruhrgebiets aufrufen. Dabei wird er allerdings bei größeren Themen nicht nur einen Artikel „seiner“ Zeitung sehen, sondern mehrere Versionen. Denn der eigentlich ausgewählten Geschichte werden – wo vorhanden – gleich mehrere Beiträge aus unterschiedlichen Zeitungstiteln der Gruppe beigestellt (siehe Screen). Dieser Kurs ist mutig, denn die „WAZ“ baut damit auf eine völlig neue Marke, der sich die bestehenden Zeitungstitel im Online-Bereich unterordnen müssen – auch wenn es nach wie vor individuelle Zeitungs-Homepages geben und die „nrz“ beispielsweise dort mit etwas anderen Rubriken als die „WAZ“ aufwarten wird.

Hat der Leser sich kostenfrei beim „Westen“ registriert und eine Adresse angegeben, bietet die Seite ihm aber noch mehr: Sobald er sein persönliches Profil aufruft, sieht er auf einer auf seine Region gezoomten Landkarte, was um ihn herum passiert. „Geo-Tagging“ nennen die Onliner das. Denn im „Westen“ sollen lokale und regionale Nachrichten mit einer exakten Adresse zu lokalisieren sein. Der Begriff der „Ortsmarken“ erfährt so eine Renaissance. Oder wie es die Strategen des „Westens“ formulieren: „Journalistische Grundregel, Nähe schafft Relevanz‘ ist im Portal erlebbar.“ So kann man sich auch optisch durch das Ruhrgebiet, dem Kern-Verbreitungsgebiet der WAZ-Gruppe, bewegen und dabei auf Schlagzeilen stoßen.

Verwandte Seiten. Völlig neu ist diese Funktion allerdings nicht – zumindest im internationalen Maßstab. Denn so geht etwa die „Los Angeles Times“ längst weiter und bietet eine „Homicide Map“: Die interaktive Karte zeigt die Tötungsdelikte der Metropole – Filter wie Alter, Geschlecht, Herkunft und Zeitraum bieten noch mehr Interaktivität, wenn auch eine traurige. Auf der Seite der „New York Times“ konnten Pendler auf einer Karte ihre Wohnorte mit ihren Kommentaren darüber verknüpfen, wie sie mit einem längeren U-Bahn-Streik umgingen. Aber auch die „Tagesschau“ bietet mit ihrem „Nachrichten-Weltatlas“ die Meldungen der letzten vier Wochen in einem interaktiven Kartensystem und mit einem Zeitfilter. Und viele Zeitungen setzen hierzulande längst auch auf interaktive Leser-Blatt-Bindung.

Beispiel: Das „Jetzt“-Portal der „Süddeutschen Zeitung“. Seit der Verlag das eingestampfte wöchentliche Jugendmagazin „jetzt“ mit einer wöchentlichen Seite im Blatt, aber vor allem mit einem großen Portal im Netz hat wieder aufleben lassen, können nicht nur Leser ein Profil anlegen, in Foren und auf den Seiten anderer Leser diskutieren. Nein, auch alle Redakteure sind in dieser Community präsent, sind per Profil von den Lesern greifbar und geben Musikvorlieben genauso an wie ihre Lieblingsfilme. Ohne Redakteure, aber für alle Leser hat das Mutterblatt inzwischen mit ihrem „Süd-Café“ ebenfalls eine Community aufgebaut. Und zumindest speziell für den Nachwuchs, in diesem Fall die akademischen Leser, hat die „Zeit“ mit ihrem „Zeit-Zünder“ Ähnliches geschaffen. Unabhängig davon lassen sich inzwischen sogar alle Autoren der Wochenzeitung als sogenannter RSS-Feed abonnieren, damit der Leser keine neuen Texte seiner Lieblingsschreiber mehr verpasst. Und sowohl auf Blogs von Redakteuren als auch auf direkte Leser-Kommentare unter den Artikeln verzichtet ohnehin kaum ein Blatt mehr.

Community-Prinzip. Was solche Angebote für die Community betrifft, erschließt der „Westen“ nur bedingt neue Ufer. Doch der Mix an Features auf der Seite, die möglicht simpel gehaltene Navigationsstruktur und intelligente Suchmaschinen-Konzeption könnten Maßstäbe setzen. Auf lokaler und regionaler Ebene dürfte sie hierzulande jedenfalls eine Neuerung darstellen.

Und in Sachen Communtiy hat sich das Team um Katharina Borchert etwas Besonderes einfallen lassen, das sich ebenfalls als geschickter kleiner Schachzug erweisen könnte: Der Muster-Leser des „Westens“ kann in der Community nämlich nicht mehr nur etwas über andere Leser oder die Mitarbeiter seiner Lokalredaktion erfahren und natürlich selbst bloggen, sondern auch Seiten für Vereine anlegen.

Damit will der „Westen“ also ganzen Gruppen eine einfache Plattform für die Kommunikation mit ihren Mitgliedern bieten. Und wer deshalb auf die Seite kommt – so zumindest die berechtigte Hoffnung –, der wird sich auch rasch über das aktuelle Geschehen informieren und im „Westen“ hängen bleiben.

Erschienen in Ausgabe 10/2007 in der Rubrik „Titel“ auf Seite 22 bis 23 Autor/en: Daniel Bouhs. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.