Überraschung mit System

?Herr Schönbach, Sie analysieren seit bald 20 Jahren Erfolgsfaktoren für Tageszeitungen. Was sind die wichtigsten Ergebnisse?

Klaus Schönbach: Das Meta-Konzept, das wir in allen Untersuchungen herausgefunden haben, ist das Prinzip der zuverlässigen Überraschung. Es gibt ein menschliches Bedürfnis nach sowohl Einordnung wie Überraschung. Eine Zeitung, die diese Kombination anbietet, steht bei den Lesern in hohem Ansehen und hat auch Erfolg. Alle Erfolgsfaktoren lassen sich diesem Prinzip unterordnen.

Was verstehen Sie unter zuverlässiger Überraschung?

Eine Zeitung sollte möglichst oft neue, manchmal vielleicht sogar unerhörte Informationen bieten. Da-raus entsteht die „Nachrichtenfreude“, mit der wir Zeitungen genießen. Zugleich muss sie verhindern, dass wir durch zu viel Überraschung überwältigt werden. Leser legen Wert darauf, dass die Überraschung geordnet ist, kritisch beurteilt und gewichtet wird durch Leute, die davon etwas verstehen, die die überraschende Nachricht in einen Kontext einbetten, sachkundig erklären, begreifbar und greifbar machen.

Seit Ihrer ersten Untersuchung 1989 hat sich die Zeitungslandschaft dramatisch verändert. Schlägt sich das auch auf die Rezepte nieder, die erfolgreiche Zeitungen brauchen?

Die Erfolgsfaktoren für Zeitungen bleiben konstant, aber ihre Ausprägungen ändern sich. Schon in den 90-er Jahren haben wir gefunden, dass jede Zeitung das anders macht. Ordnung durch Farbleitsysteme, durch eine neue Buchstruktur, kürzere Texte, bessere Gliederung, optische Absetzung. Da gibt es Moden, die sich mit den Jahren auch ändern. Aber eine Zeitung hat nicht Erfolg, weil sie farbig ist, sondern weil sie die Prinzipien bedient: Ordnung, Erschließbarkeit, luftiges Layout, die Universalität ihrer Themen und professioneller Journalismus.

Die Zeitung als Universalmedium hat also nicht ausgedient?

Natürlich werden Zeitungen immer weniger als Medium der ersten Information gelesen. Aber sie werden weiterhin für ihr universales Informationsangebot geschätzt. Das Aktuelle kann man vielleicht kürzer machen, aber es muss da sein. Zeitungen müssen in ihren Themen so vielfältig wie möglich sein, am besten täglich.

Auch wenn viele Leser einen Großteil des Angebots gar nicht nutzen?

Zeitungsleser lesen konservativ. Die Tageszeitung ist ein buntes Angebot. Das muss da sein, auch wenn man es nicht nutzen kann. Daher bin ich auch gegenüber ReaderScan kritisch. Eine schlechte Lesequote darf nicht automatisch dazu führen, das Angebot zusammenzustreichen.

Dabei liefert doch gerade Reader-Scan den Journalisten eine gute Rückmeldung, was die Leser heute interessiert hat.

Ich bezweifle, dass ReaderScan das wirkliche Leseverhalten richtig abbildet. Man unterstellt damit einen Mechanismus, den es so nicht gibt. Die Leser lesen nicht von oben nach unten, sie lesen kunterbunt, mitten im Artikel, bei einem Zitat oder den letzten Satz. Die Augen springen hin und her. Mit ReaderScan macht man einen Prozess bewusst, der eigentlich unbewusst ist. Man suggeriert, dass manche Artikel gesellschaftlich wertvoller sind als andere – und dazu zählt nun mal nicht der Sportteil. Den Lesern ist das jedoch egal. Wenn sie sich darüber aber bewusst werden, könnte das die Ergebnisse beeinflussen. Sie streichen dann nicht alle Artikel an, die sie lesen. Oder sie streichen auch Artikel an, die sie eigentlich nicht interessieren.

Zwei Dinge sind gerade en vogue: Online first und das Kompaktformat. Was sagen Sie zu diesen Konzepten?

Das Kompaktformat ist keine gute Idee. Die meisten dieser Blätter haben einen Zeitschriftencharakter. Das wird von den allermeisten Lesern nicht geschätzt. Sie wollen einen Überblick, wollen universell und abwechslungsreich informiert werden. Dies ist im Kompaktformat nur schwer umsetzbar. Wenn man Online first sagt, muss man vorsichtig sein. Die gegenwärtige Form von Online-Zeitungen ist für das Prinzip der zuverlässigen Überraschung nicht gut geeignet. Das hat technische Gründe. Der Bildschirm ist zu klein, man kann die Zeitung schlecht mitnehmen und unterwegs lesen. Im Moment ist deshalb online kein Ersatz für die Papierzeitung. Heute haben Online-Zeitungen mehr eine Update-Funktion. Man liest die Papierzeitung und schaut im Internet nach, was sich aktuell tut. Aber früher oder später werden alle Zeitungen online sein. Es wird die Papierform nur noch als „Luxusausgabe“ geben.

Viele Regionalzeitungen haben in den letzten Jahren die Lokalteile gestärkt. Ist auch das ein Erfolgsprinzip?

Für regionale Abo-Zeitungen ist lokale Orientierung ein wichtiger Faktor. Das heißt, nationale und internationale Nachrichten herunterbrechen aufs Lokale, sie anwendbar machen. Immer wichtiger auch wird Service: Nicht nur der Veranstaltungskalender, sondern Tipps für den Alltag. Die Leute interessieren sich dafür, bei welchem Supermarkt gibt es den besseren Sekt? Man kann zum Beispiel vor der Opernpremiere am Ort gleich die CDs besprechen, die dazu auf dem Markt sind. Gut ist es, wenn der Lokalteil in sich noch mal gegliedert sein kann in lokale Politik-, Kultur-, Wirtschaftsseiten.

Können Sie Zeitungen nennen, die das gut umsetzen?

Zum Beispiel die „Neue Presse Hannover“. Sie bietet viel Service, Lokales auf der ersten Seite, aber ohne es überhand nehmen zu lassen, sie hat eine Feineinteilung des lokalen Buches. Eigentlich haben sich eine ganze Reihe von Zeitungen diese Prinzipien zu Herzen genommen.

Auch gut gemachte Zeitungen leiden unter Auflagenschwund. Spricht dies nicht gegen Ihre Thesen?

Die Rezepte kann man leider nicht daran messen, dass die Auflage steigt. Man ist heute schon froh, wenn sie weniger sinkt. Man darf nicht übersehen, es gibt auch Entwicklungen im Publikum. Zurzeit haben wir eine Phase der eher nach innen gewandten Orientierung in der Gesellschaft. Da haben Medien, die öffentliche Angelegenheiten präsentieren, Probleme. Wir haben keine extremen Krisen, in denen Medien stets Hochkonjunktur haben. Dazu kommt: Die Leute sind mobiler als früher und sie haben weniger Kinder. Wenn jemand alle zwei Jahre den Job und Wohnort wechselt, abonniert er nicht die Lokalzeitung. Wer keine Kinder hat, interessiert sich auch nicht für die entsprechenden Themen vor Ort.

Ist anspruchsvoller Journalismus in solchen Zeiten dann nicht vergebliche Liebesmüh‘?

Das glaube ich nicht. Es gibt den schönen Spruch: Das Geschäftsmodell ist der Journalismus- und nicht die Zeitung. Die Vertriebsform wird sich ändern. Vielleicht kommt die Zeitung irgendwann auf einer elektronischen Folie. Aber sie bleibt ein verlässlicher Gefährte, der mich mit Neuigkeiten überrascht, aber auch hilft, mich in einer komplizierten Welt zurechtzufinden. So lange uns Neugier auf die Welt um uns herum antreibt, gepaart mit Bequemlichkeit und dem Wunsch, vertrauen zu dürfen, gehen Zeitungen nicht unter, jedenfalls solche mit guten Journalistinnen und Journalisten.

Zur Person

Klaus Schönbach, geboren 1949, ist Professor und Inhaber des Lehrstuhls für Medienwissenschaft der Zeppelin University in Friedrichshafen und des Lehrstuhls für Allgemeine Kommunikationswissenschaft der Universität Amsterdam. Seine Schwerpunkte sind Medien- und Kommunikationstheorie, Medienmarketing und Wirkungen der Massenmedien. Seit Ende der 1980-er Jahre analysiert er Erfolgsfaktoren im Zeitungsjournalismus.

Linktipp

Bei der Verleihung des Deutschen Lokaljournalistenpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung 2007 Ende August in Waiblingen hielt Klaus Schönbach einen viel beachteten Vortrag zum Thema „Warum Zeitung Zukunft hat“. Der komplette Vortrag ist abrufbar unter www.mediummagazin.de, Rubrik Download.

Erschienen in Ausgabe 10/2007 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 48 bis 49 Autor/en: Interview: Robert Domes. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt a
n die Redaktion.