Mein Thema heißt, Schülerselbstmord‘ und die Redaktion ist mit mir der Meinung, dass wir kein Daten-Fakten-mit-Experten-sprechen-Stück machen wollen. Wir wollen eine Geschichte erzählen, die wirklich passiert ist. Also müssen zunächst einmal die Menschen gefunden werden, die zu solch einem Drama gehören und bereit sind, mit einer Journalistin zu reden. Das sind die Eltern und die Geschwister. Freundinnen und Freunde, Mitschüler, Lehrer, der Rektor der Schule und vielleicht noch jemand von der Schulbehörde.
Das Mädchen, das sich mit dem Jagdgewehr seines Vaters erschoss, heißt Conny. Keine zwei Stunden, nachdem die 16-jährige Schülerin erfahren hat, dass sie nicht versetzt worden ist, bringt sie sich um.
Ich fahre hin. Spreche mit dem Vater und der Mutter. Connys Schwester ist so fassungslos wie ihre Eltern. Die Lehrer, der Rektor und die Freunde haben keine Erklärung für den, Kurzschluss‘ des Mädchens. Irgendwann beim Recherchieren denke ich: Ja, verdammt noch mal, ein lebenslustiges, junges Mädchen hat sich wegen eines schlechten Zeugnisses das Leben genommen und niemand hat Schuld?
Verstehen, Was war. Ich versuche, herauszufinden, ob der Vater zu streng mit seiner Tochter war. War er nicht. Ich frage Connys Freunde, ob die Eltern ihrer Tochter bewusst oder unbewusst vermittelt hätten, dass Sitzenbleiben eine Katastrophe ist. Das können sie sich nicht vorstellen. Und die Lehrer? Sind ganz normale Lehrer, denen man nur vorwerfen kann, dass sie jede Mitverantwortung etwas zu kühl zurückweisen.
Zu Hause tippe ich den voll geschriebenen Block ab und habe das Gefühl, dass ich die Geschichte unter der Fragestellung der Schuld nicht schreiben möchte. Auch nicht unter den Aspekten: Ein Vater klagt die Schule an. Die Recherche lässt beides zu. Ich habe die Vermutung, dass in dem ganzen Material noch etwas lauert, was wichtiger und dem Thema angemessener ist. Das ist zunächst nur ein vages Gefühl.
Abstand gewinnen Die Phase zwischen Recherche und Schreiben ist für mich die Wichtigste. Dafür muss Zeit sein. In diesem Fall brauche ich die Zeit für den Abstand zu den Menschen, bei denen ich war – schon, um die Traurigkeit wieder loszuwerden, mit der sie mich angesteckt haben. Aber auch bei einem nicht traurigen Thema ist die Phase vor dem Schreiben die Zeit, in der sich das Konzept für die Geschichte entwickelt.
Ich habe einen Kollegen, der setzt sich in dieser Phase an seine Trommeln. Er behauptet, nur so könne er, mit leerem Kopf denken‘. Meine Methode ist leiser. Ich lege mich zum, Denken mit leerem Kopf‘ aufs Bett, schließe die Augen und betrachte die Bilder, die ich von der Recherche im Kopf habe, wie einen Film: Connys Tagebuch. Tausend bunte Buchstaben für ein Wort, mit dem sie zwei Seiten ihres Tagebuchs gefüllt hatte: Ferien! Ich sehe sie mit den Freundinnen morgens an der Bushaltestelle stehen. Ich betrachte ihr „Kinderzimmer“. Ich setze mich probeweise in der Klasse neben sie. Ich stelle sie mir vor, wie sie das Zeugnis überreicht bekommt. Ich formuliere schon mal im Kopf mögliche erste Sätze und prüfe, ob sie den Ton treffen, mit dem diese Geschichte erzählt werden muss. Und irgendwann weiß ich, wie meine Geschichte heißt. Nicht: Wer hat Schuld an Connys Tod. Die Frage, die mich bei diesem Thema am meisten beschäftigt, heißt: Wer hat Conny gekannt?
Die Form finden. Ich mag keine Botschaften in Texten – aber schon die Frage ist natürlich eine. Was die Form angeht: Ich will keine Reportage schreiben, sondern das Porträt eines Mädchen, das nicht hätte sterben müssen, wenn jemand sich die Mühe gemacht hätte, es wirklich kennenzulernen. Monika Held
Erschienen in Ausgabe 11/2007 in der Rubrik „Storytelling“ auf Seite 19 bis 19. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.