Der Ort. Die Handlung.

Ein Thema ist noch keine Geschichte, selbst wenn es einen Helden gibt. Sie braucht zudem Handlung und Ort. Aristoteles verlangt von einer Handlung, dass sie aus drei Teilen besteht, die notwendig aufeinander folgen, also nicht austauschbar sind. Eine Handlung hat Anfang, Mitte und Ende. Dieser Dreiteiler enthält den inneren Handlungszusammenhang der Geschichte. Beim Film heißt er „Plot“. Schon beim Casting ist das eines meiner Suchraster: Gibt es eine Figur, die durch die Geschichte führen kann, die Anfang, Mitte und Ende trägt? Mit meiner potenziellen Heldin spiele ich durch, ob die Geschichte funktioniert. Wie läuft mit ihr die Handlung, wo sind meine Schauplätze?

Ein Königreich für eine Handlung. Manche Themen bringen ihre Protagonisten mit. Für andere gilt es, sich etwas einfallen zu lassen. Ein Jahrestag zum Beispiel. 50 Jahre Unterzeichnung der Römischen Verträge – die Geburtsstunde der EU.

Cornelia Bolesch suchte und fand eine viel versprechende Protagonistin, Ana Marques, eine Übersetzerin des EU-Ministerrats, die just am Geburtstag der EU, am 25. März 1957 in Portugal geboren wurde. Aber wie läuft mit ihr die Handlung? – Gibt es weitere Verknüpfungen des Lebens von Ana Marques mit der EU? Lassen sich zentrale Punkte ihres Lebens auf der Folie, parallel zur Geschichte der EU erzählen?

Es funktioniert, und zwar so: Ana Marques, Agrarwissenschaftlerin aus Portugal, lernt einen belgischen Kollegen kennen. Verliebt, verlobt, verheiratet. Die Regierung in Lissabon schickt Marques nach Brüssel. Sie handelt Agrarbeschlüsse mit aus, erlebt die EU von innen. Als der Rückruf nach Portugal droht, bewirbt sie sich um eine Übersetzerstelle bei der EU. Sie hat dadurch mehr Zeit für ihre drei, dann vier Kinder, erlebt die EU von innen – an anderer Stelle. Diese Handlung hat Anfang, Mitte und Ende.

Gegenbeispiel: Der Hamburger Dom, ein Volksfest steht bevor. Die Autoren steigen ein mit einem Steilwandfahrer. Kurz darf er aus seinem bewegten Leben erzählen. Und dann spazieren Bürgermeister und Generalkonsuln durch den Text, gefolgt von Wildwasser- und Achterbahnen, Gondeln und Superlativen. Und fertig! Der Text schafft keinen Zusammenhang, keine Geschichte. Kein Anfang, kein Ende, kein Plot. Der Steilwandfahrer kann nichts dafür. Er hat das Zeug zum Helden. Die Autoren haben nichts aus ihm gemacht. Hätten sie ihn gefragt, wie der Dom aussah vor 38 Jahren, welche Schausteller, welche Sensationen, welche Prominenten er schon gesehen hat – sie hätten einen feinen roten Faden gehabt, und hätten all ihre schönen Infos aus dem Pressematerial daran anknüpfen können.

Handeln heißt nicht notwendig, dass jemand im Keller eines Wohnhauses Rattengift auslegt, und die Reporterin dabei zusieht. Handeln im Sinne der Dramaturgie kann auch heißen, dass ein Mensch im Wohnwagen sitzend Erlebnisse und Erfahrungen aus der Vergangenheit ausbreitet.

Der Ort. Menschen und ihre Handlungen haben einen Ort. Der Ort oder das Milieu ermöglichen uns, den Kontext einer Handlung zu begreifen und uns ein Bild zu machen. Für das Orientieren und das bildhafte Vorstellen der Leser ist der Ort wesentlich. Das Brüsseler Büro von Ana Marques: Mönchszelle mit Heiligenbild und Blick auf Teich. Auf dem Tisch das korrigierte Protokoll der letzten Tagung der Verkehrsminister. Zweiter Schauplatz: Das Haus der Familie Marques-Van Huylenbroeck in Gent. Zwei Wohnzimmer, eines flämisch, eines eher portugiesisch. Buntes durcheinander, miteinander. Binationales, dreisprachiges, sechsköpfiges Familienbild. Der Kontrast beider Schauplätze zeigt Extreme ihres Lebens. Und zwei Ansichten von Europa. Das verwaltete und das gelebte.

Die Einheit des Ortes und der Handlung. Dramentheoretiker diskutieren die Frage, ob Sprünge über Orte und Zeiten, ob Sprünge in der Handlung gar erlaubt seien. Das diskutieren auch Reportage – Lehrbücher. Manche sagen: Wechselt die Hauptperson, so muss der Ort bleiben. Wechselt der Ort, so muss die Hauptperson bleiben. Das ist richtig, und es geht auch anders. Die entscheidende Frage ist: Kommen die Leser mit? Holger Gertz operiert mit drei Personen und drei Schauplätzen, um das Olympiastadion so richtig auszuleuchten (siehe Tabelle Seite 5).

Der Text funktioniert trotz der Ortswechsel und der drei Protagonisten. Denn alle drei beziehen sich in ihren Aussagen und Erinnerungen auf einen Ort: das alte Stadion. Und es gibt einen Erzähler, der uns die Protagonisten vorstellt, uns an die diversen Schauplätze führt und dafür sorgt, dass wir die Orientierung nicht verlieren.

Inszenieren. Orte bringen Menschen zum Sprechen. Dann bekommt ein Thema Glanz. Und die Handlung einen Ort, ein Milieu. Für Fernsehleute ist das eine Selbstverständlichkeit. Printkollegen könnten aus diesem Prinzip mehr Spannung herausholen. Holger Gertz hat seinen Hugo Robl zum Ortstermin gebeten. „Hugo Robl, 50, ist nochmal zurückgekommen in dieses Stadion und stellt sich dahin, wo bei Spielen die Ersatzbank stand, seine Ersatzbank“. Der Autor weiß, dass er durch diese Inszenierung bewegende Erinnerungen und Aussprüche provoziert. Das Foto kommt natürlich auch gut: Robl vor dem Olympiadach aus der Froschperspektive.

Mit der Wahl eines Schauplatzes bringe ich Protagonisten in Bewegung, äußerlich und innerlich. Inszenierung kennt viele Varianten. Ich kann meine Protagonisten auch mit Fotos konfrontieren. Mit Aussagen von Dritten. Oder mit Menschen, die für das Thema noch wichtig sind.

Interview vorbereiten. Die Chancen einer Perspektive, auch einer Inszenierung zu nutzen ist eine Sache der Geistesgegenwart, der Einfühlung, der Gesprächsführung. Holger Gertz hat seinen Helden Hugo Robl offenbar gefragt, wie das genau war auf dieser Ersatzbank. Und bekam fabelhafte Details geliefert: Denn diese Bank vibrierte, wenn Trainer Lattek aufsprang, und die Ersatzbänkler wurden einnebelt vom Pfeifenrauch des Bayernmanagers Schwan. Das sind Sinneseindrücke, die Bilder und Assoziationen bei Leserinnen hervorrufen und Erinnern beim Leser.

Tipp:

Machen Sie sich die Ebenen Ihres Textes bildhaft klar. Visualisieren Sie die einzelnen Elemente – und ihren Zusammenhang.

Erschienen in Ausgabe 11/2007 in der Rubrik „Storytelling“ auf Seite 9 bis 9. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.