Die Heldin. Der Held.

Personen sind unverzichtbar und das wichtigste Element gut erzählter Geschichten. In literarischen Texten und im Film heißen diese Menschen Helden. Ein Held ist jemand, der einen Weg geht und eine Veränderung erfährt. Am Ende der Geschichte ist ein Held nicht mehr derselbe.

Der Film „Goodbye Bafanas“ zeigt so eine Heldenreise. Er handelt von James Gregory, dem weißen Gefängniswärter Nelson Mandelas. James ist ein übler Rassist, als er seinen Gefangenen erstmals trifft. Als Mandela Jahrzehnte später aus der Haft entlassen wird, ist Gregory ein anderer. Seine Begegnungen mit Mandela haben ihn überzeugt vom Kampf gegen Apartheid, für ein freies und demokratisches Südafrika.

Helden entwickeln sich. Für eine gut erzählte Geschichte genügt es nicht, sie schlicht mit handelnden Personen zu bevölkern. Echte Helden gehen auf Reisen, sie erleben etwas, äußerlich und/oder innerlich, sie machen Erfahrungen, sie reifen. Diese Entwicklung soll im Text spürbar und nachvollziehbar sein. Sie bewirkt Dynamik in der Handlung. Helden müssen nicht siegen, sie dürfen auch verzweifeln.

Casten der Personen. Je spröder, abstrakter ein Thema ist, umso wichtiger ist das Personalisieren. Casten heißt, ich suche eine Schlüsselperson. Die Person, die das Thema für meine Leser aufschließt. Eine Person, die in Verbindung mit meinem Thema möglichst intensive, am besten existenzielle Erlebnisse, Erfahrungen, Gefühle durchlebt hat. Für wen ist mein Thema mit Erfahrungen, Gefühlen, Erinnerungen verknüpft? Wer kann in idealer, vielleicht sogar ergreifender Weise vermitteln, worum es geht?

Leser denken und fühlen mit. Unsere Spiegelneuronen geraten ins Schwingen, sowie uns ein Menschenwesen spürbar nahegebracht wird. Das funktioniert nicht mit Institutionen wie der Stiftung Warentest oder der EU. Und auch nicht mit einem Gebäude. Da schwingt erst mal gar nichts.

Als in München die neue Fußballarena für die Weltmeisterschaft 2006 fertig gebaut war, hat Holger Gertz für die „Süddeutsche Zeitung“ den Abgesang auf das Münchner Olympiastadion als Fußballstadion geschrieben. Sprödes, undankbares Thema: Abschied von einem Stück Architektur, in dem Geschichte geschrieben wurde. Was macht der Autor? Er wählt drei Protagonisten, die alles vermitteln, was man mitkriegen muss, um wissend, traurig und wütend zu werden. Zwei Helden, eine Nebenheldin. Held eins heißt Hugo Robl. Robl war Ersatztorwart beim FC Bayern. Der erste Keeper hieß damals Sepp Maier, und der Maier Sepp war niemals schlecht und niemals krank. So saß Hugo Robl drei Jahre im Olympiastadion auf der Ersatzbank. Der Mann, dessen große Stunde niemals kam, erzählt von dem Fußballstadion, dessen Stunden gezählt sind. Sein (Helden-) Weg beginnt als hoffnungsvolles Talent beim FC Bayern und endet im Mittelmaß der Provinz. Das entspricht dem Schicksal des Stadions, wie Gertz es deutet.

Der zweite Held heißt Blacky Fuchsberger. Er erzählt, wie er als Stadionsprecher der Olympischen Spiele 1972 das Massaker an der israelischen Olympiamannschaft erlebt hat. Er spricht dabei auch über sich: Über seine schlimmen Momente damals – und die schlechten Träume von heute.

Die dritte Figur im Text ist Touristenführerin. Sie zeigt das Olympiastadion mit dem Verstand der gelernten Grafikerin. Und vermittelt noch einmal die Idee der Architektur: Das Dach, das Licht und Luft durchlässt, beflügelt und verbindet.

Und wer macht hier die Entwicklung durch? Es ist das Olympiastadion. Es wandelt sich vom Hauptschauplatz des Münchner Fußballgeschehens zum Nebenschauplatz, auf dem künftig eine Weinmesse abgehalten wird. Die drei Protagonisten stehen für drei Phasen der Entwicklung.

Helden schaffen Perspektiven. Mit der Wahl meiner Hauptdarsteller wähle ich die Sicht auf die Dinge. Aus einer neuen, ungewohnten Perspektive wird ein bekanntes Thema interessant. Zum Stadionthema bemüht Holger Gertz eben nicht den Architekten Günter Behnisch oder den Arenamacher Franz Beckenbauer. Das abgenudelte Pisa-Thema liest sich wieder spannend, wenn man den Standpunkt des finnischen Chef-Pädagogen einnimmt, der den Lehrernachwuchs in Finnland aussiebt. Der sich einfach nur wundert über den Unverstand, mit dem „im Süden“ (Deutschland, Österreich, Schweiz etc.) das Casting von Lehramtsanwärtern vonstatten geht. Und feststellt:“Der Süden, das ist auch eine verstörend kaputte Welt, in der es sogar durch löchrige Schuldächer regnen darf“.

Wer sich für einen Helden entscheidet, entscheidet sich für dessen Ansichten, Gefühle und Wahrnehmungen. „Herrlich, dieser laute Knall, wenn die Eisenbirne eines Abrisshammers auf die Mauer eines alten Hauses prallt!“ Das ist die Sicht eines chinesischen Kunstsammlers, der die Schätze seiner Kollektion unter den Trümmern abgerissener Bauten ortet.

Erschienen in Ausgabe 11/2007 in der Rubrik „Storytelling“ auf Seite 4 bis 5. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.