Neue Macht

Bei Kerner wird wieder auf kleiner Flamme gekocht. Doch jenseits davon brodelt es nach dem Rauswurf von Eva Herman aus der „Kerner“-Sendung vom 10. Oktober kräftig weiter: Tausende Beiträge zählt allein das „jbk-Forum“ auf der Homepage zur Sendung, darunter Aufrufe zu Mahnwachen vor den ZDF-Studios in Berlin, Düsseldorf, Hamburg sowie zu Demos mit dem Tenor „Wehret den Anfängen der Meinungsdiktatur“. Der medialen Entrüstungswoge über die Äußerungen der mittlerweile ehemaligen „Tagesschau“-Sprecherin bei ihrer Buchvorstellung im September, ist ein Proteststurm gefolgt auf das, worin Henryk M. Broder eine „Lehrstunde über den Zustand der deutschen Debatte über das Dritte Reich“ sah: „Hat Eva Herman die Familienpolitik des Nazis verteidigt? Die Frage ist so irrelevant wie die Art der Haarspülung, die Eva Herman benutzt. Allein, dass sie seit Wochen debattiert wird, zeigt, welche Narreteien mit Priorität behandelt werden.“ (Es lohnt sich, den vollständigen Kommentar „Der programmierte Eklat“ unter www.spiegel.de nachzulesen!). Da war der Rauswurf der Eva Herman aus der ZDF-Sendung erst wenige Stunden her, aber der Wendepunkt in den Kommentaren im Casus Herman markiert. Bemerkenswert auch, was Klaus Schrotthofer in der „Westfälischen Rundschau“ dazu schrieb: „So weit ist es gekommen: Jetzt muss man schon Eva Herman verteidigen. Warum? Weil die Heuchelei, die Sensationsgier und die sinnentleerte Ritualisierung einer vorgeblichen politischen Korrektheit auch beim besten Willen nicht mehr zu ertragen sind. Weil der Umgang mit einer schriftstellernden Fernsehansagerin beispielhaft den Zynismus offenlegt, mit dem die, Vergangenheitsbewältigung‘ in Deutschland professionalisiert worden ist. … Weil solche Rituale immer öfter an die Stelle einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem noch heute verbreiteten Nazi-Gedankengut treten. Weil sie den grundfalschen Eindruck vermitteln, dass es Wahrheiten gebe, die man nur aus Gründen der politischen Korrektheit nicht sagen dürfe. “

 

Prägnanter kann man die journalistischen Verirrungen in der Herman-Debatte kaum zusammenfassen. Doch die unseligen Debatten mit und um Eva Herman haben einen weiten Aspekt, der nicht mehr und nicht weniger als an den Grundfesten der klassischen Medienstrukturen rüttelt: Die Kommentare sind längst nicht nur Sache der klassischen Medien. In etlichen Internetforen, allen voran im Forum auf der „Kerner“-Homepage selbst, sind die Proteststimmen gegen den medialen Umgang mit Eva Herman und ihren Thesen zu einem solchen Orkan angeschwollen, dass das ZDF sich schließlich zu einer Stellungnahme „Zum Thema Herman bei Kerner“ gezwungen sah: Am 26. Oktober entschuldigte sich Programmdirektor Thomas Bellut auf der ZDF-Homepage, für, nun ja, die Sendung und die späte Reaktion des Senders: „Es zeigt sich aber, dass wir im Zeitalter von Blogs und Internetforen unsere Kommunikation noch schneller und effizienter gestalten müssen, um in den Augen unseres Publikums glaubwürdig zu bleiben.“ Damit nicht genug: Im Dezember wird sich der ZDF-Fernsehrat mit der fraglichen „Kerner“-Sendung beschäftigen.

 

Es ist mehr als nur eine scheinbare Ironie jener Geschichte, wie ein Ideal der von Herman so geschmähten 68er-Bewegung in dieser Debatte um Meinungsfreiheit und Mutter-Thesen Gestalt annimmt: Eine machtvolle Gegenöffentlichkeit. Denn diese Tatsache bestätigt nachdrücklich eine Erkenntnis der Web 2.0-Welt: Journalisten sind nicht länger die Gatekeeper der Information. Die digitalen Archive machen zudem eine jederzeitige Überprüfbarkeit von journalistischen Aussagen möglich. Die Leser und Hörer sind nicht länger nur Medienkonsumenten, sondern werden selbst zu Akteuren, im besten Fall zu einem Korrektiv. Auch das sollte deshalb eine Lehre der Herman-Debatte sein, journalistische Schlampigkeit und Fehler werden nicht mehr so ohne weiteres verziehen. Im digitalen Zeitalter „versendet“ sich nichts mehr. Im Forum zur neuen ZDF-Mediathek schreibt ein „JohannCasparSchmidt“: „Wenn Sie mich fragen, wäre dieser Kerner-Skandal nicht so hochgekocht, wenn es die Mediathek nicht gäbe: Dort kann sich der Zuschauer nun nachträglich ein eigenes Bild machen und verlässt sich nicht auf das, was die Printmedien daraus zurechtwurschteln. Was die Leute auf die Palme treibt, ist die Kluft zwischen dem, was es in der „Kerner“-Sendung zu sehen gab und dem, was darüber berichtet wurde. Die neuen Möglichkeiten der Mediathek sollten Sie bei Ihrer Berichterstattung berücksichtigen. Uns allen sei das zugunsten von mehr Objektivität und Fairness gewünscht.“

Annette Milz

Erschienen in Ausgabe 11/2007 in der Rubrik „Editorial“ auf Seite 3 bis 3. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.