Sprechstunde

Gibt es einen neuen Gründerboom bei den Zeitschriften?

Dr. Med.: Zumindest findet die Innovation auch nach der Krise vor allem im Independent-Bereich statt: Soeben ist mit „Front“ ein Magazin für Schwule und Männer, die sich metrosexuell fühlen, erschienen, und im November kommt auch schon Markus Peichls „Liebling“ an den Kiosk: das monatliche Kulturmagazin, das einst eine Modezeitung war und revolutionär Zeitungspapier mit schönen Fashionstrecken kreuzte. Kein schlechter Vorlauf für Peichls Traum, nach dem Flop der Spiegel-Entwicklung „momo“ doch noch ein Comeback als Zeitschriftenmacher zu erleben und die Jahre in der Beckmann-Redaktion zu vergessen. Und auch bei der mittlerweile zu Burda gehörenden Milchstrasse sitzt man an einem neuen Konzept: Ein Green-Glamour-Magazin für den grünen Lifestyle und alle, die gern Bionahrung essen, aber dennoch schick aussehen wollen. Und natürlich für all die Anzeigen von Firmen, die die soziale Verantwortung als Marketinginstrument entdeckt haben wie das angesagte Sweatshirt-Label American Apparel. Geleitet wird das Blatt von Michalis Pantelouris, der zuvor u. a. schöne Artikel für die „Weltwoche“ geschrieben hat, bevor dort der Schweizer Patriot Roger Köppel das Ruder nach rechts riss. Dafür geht es jetzt in Deutschland publizistisch in die andere Richtung.

Wird der Süddeutsche Zeitung Verlag zum Ramschladen?

Dr. Med.: Printmedien dürften nicht zu Handelshäusern werden, warnt der Marketingfachmann Peter Wippermann vom Hamburger Trendbüro, „die Wein, Finanzprodukte oder Ramschware aus dem Bücherkeller genauso verkaufen wie redaktionelle Inhalte.“ Vielleicht meint er ja die SZ. „Hand verlesene Empfehlungen für Hotels, Restaurants, Cafés und Bars in den schönsten Städten Europas. Nicht lange suchen, sondern einfach von einem Lieblingsplatz zum nächsten spazieren“ – mit diesen Worten bewirbt die „Süddeutsche Zeitung“ ihre Reiseführer-Reihe, die sie gemeinsam mit dem Berliner Reiseportal „Smart Travelling“ herausgibt. Im Falle des Berlin-Reiseführers der SZ sehen die „Hand verlesenen Empfehlungen“ dann so aus: Da wird in dem recht luftig gesetzten Bändchen mit reichlich Platz für Notizen zum Preis von 9,90 Euro etwa das Restaurant Borchardt empfohlen oder das Café Einstein. Unter der Überschrift „Biergärten“ wird einem der Prater in Prenz-lauer Berg schmackhaft gemacht oder das „Café am Neuen See“ in Tiergarten, das ebenfalls dem Borchardt-Besitzer Roland Mary gehört. Angesichts dieser absoluten Geheim-Tipps wundert man sich eigentlich nur noch, dass nicht auch das Brandenburger Tor oder der Fernsehturm am Alexanderplatz als „Hand verlesene Empfehlungen verkauft“ werden.

Wozu brauchen wir Henryk M. Broder?

Dr. Med.: Auch wenn Henryk M. Broder den Antisemitismus-Verdacht selbstständig an- und ausknipst wie den Kronleuchter im Schloss, hat ihm die Medienlandschaft in den letzten Wochen viel zu verdanken – denn mittlerweile erfüllt Broder die Wächterfunktion der Presse in vielen Debatten fast im Alleingang. So entlarvte er in einem luziden Stück zu Eva Hermanns Rausschmiss bei Kerner als Erster die ganze Verlogenheit des Moderators und seiner Beisitzer, die sich über die beschränkte TV-Frau hermachten. Auch das alarmistische Gebrabbel von Politikern und der Vorsitzenden des Jüdischen Zentralrates im Falle des deutsch-iranischen Fußballers Ashkan Dejagah, der nicht gegen Israel spielen wollte, wurde von Broder treffsicher decouvriert. Schade, dass es in deutschen Redaktionen nicht viel mehr Broders gibt, die den verantwortungslos vor sich hin krakeelenden Politikern vom Schlage eines Friedbert Pflüger oder Volker Kauders einen mitgeben. Der hatte den Türken im Sommer damit gedroht, dass es mit einem EU-Beitritt schwer werden dürfte, wenn der 17-jährige Marco W. nicht entlassen würde. Der aber dürfte auch auf Grund dieser erpresserischen Einlassungen noch ein bisschen länger im Gefängnis bleiben. Vielleicht kann Broder da noch mal ran.

Wie peinlich ist VW?

Dr. Med.: Es ist noch gar nicht lange her, da galten manche Corporate Publishing Magazine als die Bewahrer journalistischer Qualität. Als die Verlage in der Krise alle publizistischen Spielwiesen mähten und jede Menge Redakteure entließen, kamen viele bei diesen Magazinen unter und konnten dort jenseits vom Renditedruck achtbare Arbeit machen, da die Konzerne verstanden hatten, dass man diese Hefte nicht nur mit Lobhudelei über die eigenen Firma füllen muss. Ein leuchtendes Beispiel dafür war die Zeitschrift der VW-Autostadt in Wolfsburg „Stadtansichten“. Dieses monothematische Heft war ein optischer rund inhaltlicher Lichtblick, es las sich besser als manche Publikumszeitschrift und sah vor allem besser aus. Mittlerweile ist das Blatt wieder zum Huldigungsheft von VW verkommen. In der aktuellen Ausgabe zum Thema „Erfolg“ wird ausgerechnet VW-Chef Martin Winterkorn mit hündischen Fragen zum Erfolg des Autobauers eingedeckt. Als Stichwortgeber fungiert ein Ressortleiter der „Wirtschaftswoche“. Wie es scheint, geht es nicht nur bei „Stadtansichten“ bergab.

Tut sich bei der „FAZ“ auch inhaltlich noch was?

Nach dem optischen Relaunch, der die „FAZ“ ein wenig wie die „FR“ vor der Reform aussehen lässt, soll es tatsächlich auch inhaltlich Revolutionäres geben – zumindest für „FAZ“-Verhältnisse. Mit Marcus Jauer wurde von der „SZ“ ein klassischer Reporter geholt, und so etwas wie gut geschriebene Reportagen wäre ja bei der „FAZ“ tatsächlich etwas Neues. Damit aber die Leser nicht plötzlich im ersten Buch von spannenden Artikeln überrascht werden, wechselt Jauer vorsichtshalber in das von Frank Schirrmacher betreute Feuilleton.

Dr. Med. alias Oliver Gehrs, freier Journalist in Berlin, beantwortet in der

„medium magazin“-Sprechstunde regelmäßig Leserfragen zur Medienbranche. Fragen bitte per eMail an redaktion@ mediummagazin.de

Erschienen in Ausgabe 11/2007 in der Rubrik „Journaille“ auf Seite 16 bis 17. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.