Wegweiser

Das ist eine Frage des Prinzips: Kann Meinungsfreiheit in Deutschland wirklich bedeuten, dass „die Äußerung von jedem Einzelnen vorher von jemand anderem überprüft wird“? Stefan Niggemeier, der das sagt, ist von der „medium magazin“-Jury zum „Journalist des Jahres“ gewählt worden – weil er Zeichen für Qualitätsjournalismus im Internet gesetzt hat, aber auch weil er sich als freier Journalist ohne finanzielle Rückendeckung nicht scheut, heiße Eisen anzufassen (s. Seite 20 ff.). In seinem Blog www.stefan-niggemeier.de setzt er sich seit Langem kritisch mit den Praktiken von Anrufsendern auseinander, was Leser seines Blogs wiederum regelmäßig kommentieren. Nun hat die Firma Callactive ihn verklagt und dabei geht es mittlerweile eben um grundsätzliche Fragen des Umgangs mit Meinungsfreiheit: Niggemeier ist erfolgreich abgemahnt worden, weil er in seinem Blog den rechtlich nicht zulässigen Kommentar eines Lesers zwar sofort nach Kenntnisnahme gelöscht hat, aber weil dieser Eintrag mitten in der Nacht erfolgte, stand er bis zum frühen Morgen online. Das Landgericht Hamburg hat Anfang Dezember auf Betreiben der Klägers, die Firma Callactive, eine einstweilige Verfügung gegen den Journalisten erlassen, wonach er als Blogbetreiber dafür sorgen muss, dass solche Fremdkommentare in bestimmten Fällen erst gar nicht erscheinen, und sei es noch so kurz.

 

Das Urteil kann – sollte es rechtskräftig werden – erhebliche Konsequenzen für alle Onlineanbieter haben, die ihren Lesern mehr bieten wollen als eine reine Informations- und Archivfunktion. Denn das Urteil gibt – so meint Stefan Niggemeier – „Unternehmen oder Personen, die in der Kritik stehen, weitreichende Möglichkeiten, den Umweg über Kommentare zu nutzen, um gegen unliebsame Kritiker vorzugehen. Es beruht auf der Annahme, dass kritischer Journalismus und die Meinungsfreiheit überhaupt etwas Gefährliches ist und dass es besser ist, eine offene Diskussion ganz zu verhindern als Grenzüberschreitungen in Kauf zu nehmen.“

Interaktivität mit den Usern ist aber der Schlüssel des Web 2.0-Zeitalters – was insbesondere für die Medienhäuser ebenso Herausforderung wie Problem bedeutet. Eine offene lebhafte Diskussion wünschen sich alle, aber gleichzeitig gilt es, die eigene Marke nicht zu beschädigen durch Online-Pöbeleien auf den eigenen Seiten. Denn längst nicht alle Nutzer halten sich in ihrer Wortwahl und in ihren Aussagen an gültige rechtliche und moralische Regeln. Darauf weist Hans-Jürgen Jakobs, Chefredakteur von süddeutsche.de zu Recht hin. „Wir sind als Medien doch ethischen Standards verpflichtet und wollen keine Plattform für üble Verleumdungen bieten, die unsere Marke letztlich selbst beschädigen würden“, sagt er. Und hat deshalb die Kommentiermöglichkeit zu Beiträgen auf Süddeutsche.de zeitlich eingeschränkt und sie nur noch an Arbeitstagen in den Bürozeiten zwischen 8 und 19 Uhr geöffnet. Eine Konzession an die Macht des Faktischen, die ein zuverlässiges Qualtätsmanagement rund um die Uhr nicht gewährleisten kann, solange die Budgets für Online-Redaktionen keine qualifizierte 24-Stunden-Betreuung gestatten. Die neue Einschränkung stößt jedoch bei den Nutzern auf wenig Verständnis, wie diese Kommentare exemplarisch zeigen: „… streichen Sie die Kommentierfunktion doch ganz. Alles andere ist einer liberalen Zeitung wie der, Süddeutschen‘ in jeder Hinsicht unwürdig!“ oder „… Es kann nicht der Zweck eines Forums sein, den Kommentatoren vorzuschreiben, wann (und damit auch zu welchem Thema:, nichts ist so alt wie die Nachricht von gestern‘) sie ihre Statements abgeben dürfen und wann nicht. Eine vernünftige Diskussion ist auf einer solchen Basis nicht möglich …“ „…Es muss auch und gerade bei einer Zeitung wie der, SZ‘ möglich sein, politisch, nicht korrekte‘ Standpunkte und Minderheitenmeinungen zu vertreten, ohne dass die Zensur eingreift.“

 

Das problem wird für alle Medien, die den Anschluss an die digitale Welt nicht verlieren wollen, relevant, und Qualitätsmanagement dabei zum zentralen Thema werden. Das dokumentiert auch die Wahl der Journalisten des Jahres 2007 – wie Stefan Niggemeier, Hans-Jürgen Jakobs und Mathias Müller von Blumencron von „Spiegel Online“ als „Redaktion des Jahres“. Sie alle haben Zeichen gesetzt, die zum Wegweiser geworden sind, jeder auf seine Weise und dennoch alle für ein gemeinsames Ziel: Die Position von Qualitätsmedien und Qualitätsjournalismus in der digitalen Welt zu stärken. Das sei uns allen gewünscht.

Annette Milz

Erschienen in Ausgabe 1/2008 in der Rubrik „Editorial“ auf Seite 3 bis 5. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.