„Wir sind keine Galeere“

Sie sprechen mit dem stellvertretenden Chefredakteur von, Spiegel Online‘.“ Das sagt Wolfgang Büchner (41) gleich zu Beginn des Gesprächs. Dieser Satz ist ihm wichtig. Denn zu diesem hektischen Zeitpunkt Mitte Februar sind Büchner und sein Kollege Rüdiger Ditz (43) als Nachfolger von Mathias Müller von Blumencron (der mit Georg Mascolo zum Chefredakteur des „Spiegel“ bestellt wurde) noch nicht offiziell benannt. Über die künftige Ausrichtung des reichweitenstärksten Nachrichtenangebots im Netz, das von der „medium magazin“-Jury zur „Redaktion des Jahres“ 2007 gewählt wurde, (s. a. Seite 22f.), will Büchner deshalb auch noch nicht reden. Klar ist, darauf lassen Äußerungen der neuen „Spiegel“-Chefs und ihres Geschäftsführers Mario Frank schließen, dass das gedruckte Nachrichtenmagazin und sein Online-Ableger künftig stärker verzahnt werden. Bisher bestanden beide Angebote nebeneinander, gegenseitige „Amtshilfe“ kam eher zufällig zustande.

Die Investitionen, die der Spiegel Verlag in die Tochter SpiegelNet GmbH und deren Ableger Spiegel Online GmbH steckte, mussten an die Mutter zurückgezahlt werden. Im vergangenen Jahr waren die hausinternen Schulden verrechnet, seither steht „Spiegel Online“ im Plus. Mario Frank sprach kürzlich von 20 Millionen Euro Umsatz im Jahr und einer Rendite von 10 Prozent. Im Januar wies IVW für „Spiegel Online“ eine halbe Milliarde Page Impressions und rund 90 Millionen Visits aus.

Der Weg, den „Spiegel Online“ hinter sich hat, liest sich wie eine klassische Startup-Story. Zwei Redakteure legten 1995 los, zur Zeit des New Economy-Booms wuchs die Belegschaft auf 30 Redakteure an. Anders als andere Online-Ableger von Printmedien wurde das Team jedoch nicht zusammengedampft. Heute sind rund 80 Redakteure bei „SpOn“ angestellt, dazu kommen mehr als 30 feste Freie.

Ihr Team wurde zur „Redaktion des Jahres“ gewählt. Was finden Sie selbst denn toll in ihrem Laden?

Wolfgang BÜchner: Es besteht ein gemeinsames Grundverständnis: Wir wollen die beste und schnellste Nachrichtenwebsite in Deutschland machen. Wir haben einen gemeinsamen Spirit, es herrscht großer Teamgeist. Und wir haben hervorragende Journalisten.

Sagt das nicht jeder Chefredakteur über seine Redaktion?

Ich habe vorher in vielen Redaktionen gearbeitet. Dass die Leute so fokussiert sind, das bestmögliche Produkt abzuliefern, habe ich in dieser Form noch nicht erlebt. Und ich kenne keine Redaktion, in der die Mitarbeiter so wenig damit beschäftigt sind, sich gegenseitig zu behindern.

Liegt das am Medium?

Das liegt vor allem bestimmt da- ran, dass wir eine ganz junge Truppe haben, in der jeder für sich persönlich große Chancen zur Weiterentwicklung sieht. Der Freiraum ist groß, jeder kann viel beitragen. Und die Arbeit ist so intensiv, dass man für Quatsch wie Reibereien oder Intrigen keine Zeit hat.

In einem Artikel im „SZ-Magazin“ hieß es, die „Spiegel Online“-Redaktion sei eine Galeere.

Das sehe ich nicht so. Wir sitzen in einem Ruderboot, in dem alle kräftig ziehen müssen. In einer Galeere sitzen ja Sklaven unter Deck, die nur rudern, weil sie gepeitscht werden. So läuft das bei uns nicht, und damit hätten wir auch keinen Erfolg.

Welche online-spezifischen Anforderungen an Redakteure haben Sie?

Es gibt bei uns keine online-spezifischen Anforderungen. HTML oder Java müssen „Spiegel Online“-Redakteure nicht beherrschen. Sie müssen nur gute Journalisten sein. Ich war acht Jahre bei Nachrichtenagenturen und fand es immer toll, am Pulsschlag der Zeit zu sein. Wir wollten immer die Schnellsten sein, aber es galt die Philosophie des „Get it first, but first get it right“. Das machte großen Spaß. Bei einer Agentur spüren sie aber irgendwann mal das Defizit, dass sie eine Art Halbfertigware produzieren. Danach arbeitete ich für die „Financial Times Deutschland“. Da kamen die spannendsten Nachrichten manchmal, als das Blatt schon gedruckt war. So, und jetzt nehmen Sie „Spiegel Online“. Hier können sie jederzeit reagieren, jederzeit senden und gleichzeitig auch immer eine Seite gestalten. Das ist grandios, darauf muss man aber auch Lust haben, nachrichtenstark sein und schnell. Wir hatten hier Leute, die rasch gemerkt haben, dass es ihnen zu turbulent zugeht.

Befindet sich „Spiegel Online“ auf dem Weg weg von einer reinen Nachrichtenwebsite?

Im Kern sind wir das. Wir versuchen aber, ständig mehr Hintergrund und Analyse zu bringen. Mit unserem Team von mehr als 80 Redakteuren und drei Dutzend festen freien Mitarbeitern können zudem immer öfter Kollegen zu Reportage-Einsätzen schicken. In den vergangenen beiden Jahren haben wir von allen weltbewegenden Ereignissen intensiv von vor Ort berichtet.

Aber es kommen auch viele neue Bausteine hinzu wie das Zeitgeschichte-Ressort „einestages“, unterhaltende Elemente und demnächst ein Bewegtbild-Format für Sportfans.

Aber das mindert unseren Nachrichtenanteil ja nicht. Wenn wir ein Sportangebot im Video-Format starten, sind das ja auch Nachrichten. „einestages“ bietet Zeitgeschichte, das hat nichts mit dem Abschied von Nachrichten zu tun. Schauen Sie das Angebot zum Fall Zumwinkel an: Es gibt die Nachrichtengeschichte, die von einer „Spiegel“-Kollegin beigesteuert wurde, ein Zumwinkel-Porträt, ein Hintergrundstück und Reaktionen auf die Enthüllung. Dazu brauchen wir ein großes Team. Wir produzieren damit fünf Zeitungstitelseiten am Tag, und was die Zahl der Texte anbetrifft, so viel wie eine große Tageszeitung – und das Ganze sieben Tage rund um die Uhr. Es ist also noch ein wenig Luft nach oben, was die optimale Personalstärke angeht.

Nun liegt es nahe, die Kooperation mit dem „Spiegel“ zu verbessern.

Natürlich. Durch eine enge Kooperation mit dem „Spiegel“ kann „Spiegel Online“ noch viel besser werden. Auf der anderen Straßenseite sitzen über 200 ausgezeichnete Journalisten.

Wie lief die Zusammenarbeit bisher?

Wir hatten bisher eine Art friedliche Koexistenz. Es gibt sehr viele Korrespondenten, die gerne bei uns mitarbeiten und zu helfen bereit sind. Eine offizielle Anweisung, bei Online mitzumachen, gab es nicht. Wir haben versucht, die Print-Kollegen für das Internet zu begeistern. Als einige von denen gemerkt haben, wie viel Feedback man da bekommt, haben sie Spaß an der Sache bekommen.

Wird es eine solche Anweisung zur Zusammenarbeit in Zukunft geben?

Nein. Das bringt nichts. Sie dürfen die Leute nicht zwingen, sich gegenseitig zu lieben. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Man muss zeigen, welche Chancen sich auftun.

Wird die Zahl der Autorenstücke steigen?

Der Anteil der eigenen Stücke hat sich in den vergangenen Jahren bereits erhöht, und damit auch der Anteil der Autorenstücke. Am Nachmittag sind häufig alle unsere Aufmacher Autorenstücke.

Achten Sie auf eine spezielle Sprache?

In unserem Markt müssen wir uns jeden Tag behaupten, da gibt es ja kein Abonnement. Darum achten wir auf eine Sprache, die verständlich und interessant ist. Wir legen großen Wert auf Headlines, Bildauswahl, Teaser, die immer interessant und knackig klingen, dabei aber seriös bleiben müssen. Dass da manchmal eine Formulierung durchrutscht, die etwas unglücklich ist, ist nicht gut, kann aber passieren. Das kommt auch bei einer Tageszeitung vor. Es gibt in Deutschland diese Grundannahme, dass Seriösität langweilig sein muss. Nun, Langeweile ist bei uns natürlich absolut verboten.

Das trägt „Spiegel Online“ gelegentlich den Vorwurf ein, man betreibe Boulevardjournalismus.

Das ist absurd. Schauen Sie sich doch mal den öffentlich-rechtlichen Rundfunk an. Deren Boulevardanteil ist mit Sicherheit höher als unserer. Haben Sie mal versucht, bei der Landtageswahl in Bremen in ARD und ZDF Berichterstattung zu finden? Da gab es praktisch nichts. Wir hatten dagegen die ganze Homepage voll mit diesem Thema, mit Nachrichten, Interviews, Infografiken. Wenn Online Boulevard bedeuten soll, dann ist Fernsehen Boulevard hoch fünf.

Wie verfahren Sie denn mit Themen, die gar nicht laufen und die journalis- tisch trotzdem relevant sind?

Wenn wir davon überzeugt sind, dass es sich um ein relevantes Thema handelt, lassen wir es ein paar Stunden auf der Homepage, auch wenn es nicht geklickt wird. Die ersten vier Aufmacher bei „Spiegel Online“ müssen starke, relevante Nachrichten sein, völlig egal, wie die Quote ist. Dahinter kommen auch weichere Themen wie Sport oder eine Fernsehkritik. Wenn die nicht funktionieren, dann ist die Quote schon wichtig. Diesen Mix begreifen die Leute. Ganz klar: Unterhaltende Elemente werden gerne gelesen. Aber wir räumen denen nicht mehr Raum ein als beispielsweise die „Süddeutsche“ ihrer Panorama-Redaktion.

„Spiegel Online“ verzichtet größtenteils auf eine Kommentarfunktion zu einzelnen Artikeln. Warum?

Wir bieten eine Kommentarfunktion bei all den Texten an, bei denen wir sie für sinnvoll halten. Das sind vor allem subjektive Stücke: Kolumnen, Kommentare, Polemiken. Eine Kommentarfunktion an aktuellen Nachrichten und kleinen Meldungen produziert vor allem Redundanz und Langeweile. Wer will denn im Ernst bei jeder neuen Nachricht über die aktuelle Steueraffäre aufs Neue über die Raffgier der Manager diskutieren? Wir bündeln die Diskussionen zu einem Thema an einem zentralen Ort – in unserem Forum. Dort tauschen sich über 80.000 aktive Leser sehr rege über die Themen und Fragen des Tages aus.

Und wie steht es mit den neuerdings beliebten Web 2.0-Angeboten?

Die Web 2.0-Erfolgeschichten sind IT-Erfolgsgeschichten. Weder YouTube noch MySpace noch Facebook wurden in einem Verlag erfunden. Bei „Spiegel Online“ überlegen wir uns sehr genau, welche Elemente dieser Angebote wir benötigen, um unseren Lesern noch besseren Journalismus, eine noch spannendere Seite anzubieten. Unsere im Herbst gestartete Zeitgeschichte-Plattform einestages.de versucht genau dies: Guten Journalismus durch eine intelligente Beteiligung von Lesern noch besser zu machen. Mit inzwischen mehr als 10.000 registrierten Benutzern und mehr als 20 Millionen Page Impressions im Monat ist das Projekt sehr gut gestartet.

Hand aufs Herz: Was denken Sie, wie viele der Mitarbeiter mit einem Wechsel zum „Spiegel“ liebäugeln?

Puh, das kann ich Ihnen nicht sagen. Es kann schon sein, dass der eine oder andere gerne beim „Spiegel“ arbeiten würde, warum auch nicht? Die Fluktuation ist bei uns aber gering. Als sich Mathias Müller v.Blumencron aus dem „Spiegel-Online“-Büro verabschiedete, fragte er in die Runde: Wer ist eigentlich noch aus meiner Anfangszeit dabei? Da haben mehr als die Hälfte der Leute die Hand gehoben.

Erschienen in Ausgabe 3/2008 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 18 bis 21 Autor/en: Interview: Christian Meier. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.