Diagnose

Die Zeitungen haben Format, leider.

Gradierung bedeutet die Bewertung von Dingen, die Auswahl, das Sortieren. Es ist also eine journalistische Grundtugend, die man heute leider nur noch selten antrifft. Es sei denn, man versteht unter Gradierung zu schauen, was die Konkurrenz macht.

Wenn man sich heute fünf Tageszeitungen in Deutschland anschaut, hat man mit hoher Wahrscheinlichkeit eine thematische Überschneidung von 80 Prozent. Alle hangeln sich mit den gleichen Themen und Aufmachern durch den Tag. Nicht, dass die präsentierten Themen unwichtig wären, aber es lohnt sich auf jeden Fall noch der zusätzliche Blick in die ausländische Presse, in „Herald Tribune“, „NZZ“ oder „Le Monde“, um ein wenig mehr aus Ländern zu erfahren, die gerade nicht im Fokus der Weltöffentlichkeit stehen.

Einzig die „FAZ“ hat die Chuzpe, auch ab und zu mal ein Thema zu präsentieren, das nicht am selben Tag in allen anderen Zeitungen steht. Deswegen liest man sie dann doch hin und wieder ganz gern, obwohl sie so selten gut geschrieben ist. Aber es geht beim Journalismus halt nicht immer nur um das gute Schreiben – diesen Spruch sollte man mal über den Eingang der Henri-Nannen-Schule hängen.

Umweg übers Ausland. Ich habe in der „FAZ“ mal eine spannende Geschichte über die vielen Erschossenen an der bulgarisch-türkischen Grenze gefunden, geschrieben von einem honorigen Professor (Stefan Appelius), der sich ganz dem Andenken dieser Opfer des Eisernen Vorhangs widmet. Kein Stück für den Kischpreis, sicher nicht, aber doch ein unglaubliches Thema: Etliche DDR-Bürger, deren Urlaub am Schwarzen Meer in einem Grab am Todesstreifen endete. Hat hierzulande kaum ein Schwein interessiert – mal abgesehen eben von dieser Spalte in der „FAZ“ und einem Aufsatz auf der „Spiegel“-Seite „Meine Geschichte“. Die „Welt“, die „SZ“, die „taz“ und wie sie alle heißen, ließ das Thema kalt.

Jetzt erscheint diese unaufgearbeitete Geschichte über zerstörte Familien, anonyme Gräber auf einem Friedhof in Sofia und die totale Blockade der bulgarischen Regierung in der „New York Times“. Vielleicht landet sie über diesen Weg auch endlich in deutschen Zeitungen.

Denn seit Jahren delegieren deutsche Zeitungsredaktionen Auswahl und Bewertung von Themen gern an andere Medien – zum Beispiel an die Nachrichtenagenturen. Es gibt Auslandskorrespondenten, die vor lauter Frust, dass ihre Geschichten im eigenen Blatt nur selten gedruckt werden, zum dpa-Kollegen vor Ort gehen, der sich eines neuen Themas mit Freude annimmt, und die anschließend auf einen Anruf aus der Heimatredaktion warten: „Du, da kommt gerade was über Agentur, kannst du nicht auch mal …“ Klar kann er, schon lange.

Es ist schon seltsam: Manche Themen sind allgegenwärtig und arten selbst bei seriösen Zeitungen in Materialschlachten aus (wie weiland bei der „SZ“, die anlässlich Ratzingers Wahl eine peinliche, affirmative Papstbeilage publizierte), manchmal werden Themen hingegen totgeschwiegen, eben weil die Konkurrenz sie schon veröffentlicht hat. Die Ehre will man den anderen Blättern dann doch nicht erweisen. Dieser Neid und die Missgunst und der Unwille, mit dem nötigen Selbstbewusstsein eigene Themen auch auf die Titelseite zu setzen, hat selbst teilweise die „taz“ erfasst, die nur noch selten mit eigenen Schwerpunkten überrascht und stattdessen auf denselben Themen-Kanon wie die anderen setzt, nur nach einem besonderen Dreh sucht – manchmal reicht auch schon eine lustigere Überschrift.

Diese Verzagtheit, diese Unfähigkeit, Dinge auf die Agenda zu rücken, die nicht überall gedruckt werden, um nicht allein dazustehen – kann man schon in den Redaktionskonferenzen beobachten. Da sitzen dann oft Leute am Tisch, die sich gegenseitig die Ideen zerreden. Wenn man schon keine hat, kann man wenigstens die der anderen schlecht machen. Oft gehörtes Argument auf den quälenden Sitzungen: Das habe schon mal irgendwo gestanden. Wenn man dann nachschaut, war es eine Vier-Zeilen-Meldung vor fünf Jahren im „Handelsblatt“.

„Zu viele Männer“. Ich habe neulich den Bildredakteur einer Wochenzeitung getroffen. Der hätte gern fantastische Bilder aus den Pariser Vorstädten gedruckt, Kinder von Immigranten, die statt ihr Quartier in Stücke zu hauen atemberaubend akrobatisch auf den Straßen tanzen. Die Bilder sind mehrfach ausgezeichnet worden, in Deutschland waren sie kaum zu sehen. Bei der Wochenzeitung wurden sie auch nicht gedruckt. Das Argument war, man habe gerade eh zu viele Männer im Blatt. Hört sich an, als würden manche Blätter mittlerweile abgemischt wie das Musikprogramm eines Privatradios. Das ist dann auch ein gutes Wort: Format-Zeitungen.

Erschienen in Ausgabe 4/2008 in der Rubrik „Journaille“ auf Seite 46 bis 46. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.