Vorwurf der Propaganda

Man soll nicht den Spiegel schelten, wenn er eine Fratze zeigt“, klagte der Satiriker Nikolaj Gogol im 19. Jahrhundert. Und seitdem scheinen die Machthaber in Russland ihre Einstellung gegenüber Kritik kaum geändert zu haben. Wer kritisch berichtet über Putins Demokratur, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, er betreibe Propaganda und sei „voller Verachtung für das russische Volk.“

Weit über die Vorstellungskraft. Im Umgang mit Journalisten greift die Regierung zu Zuckerbrot und Peitsche. Störenfrieden droht Ungemach, Hofberichterstatter aus dem Westen werden regelrecht gehätschelt. Der Kreml lässt manche gar zu Treffen mit Putin extra einfliegen oder für viel Geld Vorträge halten und Studien schreiben. Putins „Fünfte Kolonne“ im Westen relativiert die objektiven Missstände gebetsmühlenhaft mit dem Hinweis auf demokratische Defizite und Ungerechtigkeiten im Westen. Damit vergleichen sie nicht nur Äpfel mit Birnen, sondern verhöhnen jene Menschen in Russland, die unter das Räderwerk der Macht geraten sind.

Dass solche Persilscheine für Putin zuweilen bereitwillig aufgenommen werden, liegt auch daran, dass die Verachtung von Recht und Gesetz heute in Russland Ausmaße hat, die weit über die Vorstellungswelt der Leser im Westen hinausgeht. Etwa, wenn Gerichtsverfahren wie in der Yukos-Affäre mehr an Romane von Kafka und Orwell erinnern als an moderne Rechtsprechung.

Ohne den nötigen Erfahrungshintergrund werden solche Auswüchse zuweilen gar nicht in letzter Konsequenz wahrgenommen und als „Übertreibungen von Journalisten“ empfunden.

Lautstarke Bekenntnisse. Guter Journalismus muss hier „Übersetzungsarbeit“ leisten: Es gilt, die oft kaum nachvollziehbaren Verhältnisse in der „gesteuerten Demokratie“ anschaulich und greifbar zu machen.

Dabei stehen Berichterstatter vor Herausforderungen, auf die keine Journalistenschule vorbereitet. Weil Moskaus Mächtige sich abseits ihrer streng orchestrierten Presse-Veranstaltungen und offiziellen Verlautbarungen in Schweigen hüllen, ist der journalistische Grundsatz, immer alle beteiligten Seiten zu Wort kommen zu lassen, nur bedingt realisierbar. Wort und Tat der Regierenden gehen so weit auseinander, dass eine Berichterstattung nach rein westlichen Maßstäben grob fahrlässig wäre:

Als sich der designierte Präsident Dmitrij Medwedew im Wahlkampf lautstark zu Demokratie und Rechtsstaat bekannte, reagierten manche Kommentatoren auch im Westen fast begeistert. „Putins Kronprinz setzt sich vom Präsidenten ab“, titelte ein großes deutsches Medium. Eine gründliche Recherche hätte ergeben, dass beinahe alle der gelobten Aussagen des Nachfolgers auch schon Putin selbst über die Lippen gehen – viele schon vor acht Jahren.

Geschlossene Gesellschaft. Auch bei der Recherche müssen westliche Grundsätze hinterfragt werden. So wollen etwa immer mehr Gesprächspartner mit Kritik nicht namentlich genannt werden; manche bitten gar darum, Gespräche unter freiem Himmel zu führen und dabei auf die Mitnahme von Handys zu verzichten – aus Angst, auch diese könnten als Abhörwanze angezapft werden. So sparsam seriöse Journalisten in offenen Gesellschaften mit dem Benutzen von anonymen Quellen sein müssen, so unseriös wäre es in einer geschlossenen Gesellschaft mit einer Atmosphäre der Angst auf diese zu verzichten. Umgekehrt erfordert es große Erfahrung und jahrelange Kontakte, um seriöse Informanten von zwielichtigen Verleumdern zu unterscheiden.

Wer alle Klippen umschifft und kritisch berichtet, muss sich schon mal als Goebbels, Münchhausen oder Saujude beschimpfen, ja gar zum Spion erklären lassen. Oder er bekommt Warnungen von hochrangigen Beamten, er solle sich Gedanken um seine Sicherheit machen. Ganz nach Gogols Spiegel-Metapher sind für den Kreml die Berichterstatter an den Missständen in Lande schuld – und nicht deren Verursacher.

Lesetipp:

Im April erscheint das neue Buch von Boris Reitschuster „Der neue Herr im Kreml?“ (208 Seiten, Econ).

Beiträge und Infos zum Autor:

www.reitschuster.de

Erschienen in Ausgabe 4/2008 in der Rubrik „Standpunkt“ auf Seite 52 bis 53 Autor/en: Boris Reitschuster. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.