Diagnose

IM Gregor muss bleiben!

Es sollte wohl eine Ehrenrettung für Thomas Leinkauf sein, was Michael Maier, ehemaliger Chefredakteur der „Berliner Zeitung“, da im „Spiegel“ von sich gab. Ausführlich erzählte Maier, wie Leinkauf im Frühsommer 1996 zu ihm gekommen sei und zugegeben habe, als IM für die Stasi spioniert zu haben. Genauso hatte es Leinkauf nach seiner kürzlichen Enttarnung als IM „Gregor“ auch zu Protokoll gegeben. Und das machte dann ja auch Eindruck und schien für ihn zu sprechen. Endlich mal einer, der sich ein Herz fasst und freiwillig outet. „Det war scheiße“, zitiert Maier seinen reumütigen Ressortleiter.

Doch Maiers Artikel hatte für Leinkauf auch ehrenrührige Passagen. So gab Maier mehr oder weniger zu verstehen, dass er Leinkauf damals auch deshalb bei der „Berliner Zeitung“ gehalten habe, damit Alexander Osang sie nicht verlässt. Leinkauf und Osang sind befreundet, und überhaupt galt Leinkauf als gute Seele der Reporter-Kompanie, der ja neben Osang auch noch andere gute Autoren angehörten. Einige meldeten sich übrigens kurz nach dem Auftauchen von Leinkaufs Akte per Leserbrief bei der „Berliner Zeitung“ und schrieben, dass Leinkauf immer ein toller Chef gewesen sei, der keine Denkverbote erteilt habe, immer kritisch gewesen sei und nie irgendeine Blattlinie durchgedrückt habe. Was das mit den Vorwürfen zu tun hatte, dass Leinkauf von 1975 bis 1977 als IM arbeitete, wurde nicht ganz klar. Als könnte jemand, der als studentischer IM über eine junge Frau schrieb, dass sie leichtfertig intime Beziehungen eingehe, wenn sie ein „paar Schluck getrunken“ hat, nicht ein Vierteljahrhundert später ein guter Journalist werden. Aber Gott sei Dank hatte sich inmitten der erstaunlich harschen Leserbriefe („Gehe als Leser, wenn Leinkauf bleibt „) mal eine Stimme für den Seite 3- und Magazin-Chef erhoben.

Bemerkenswerter an dem Maier-Artikel im „Spiegel“ war allerdings, wie der ehemalige Chefredakteur seine Reaktion auf Leinkaufs Geständnis schildert. Weil es keine Akte gab, war die Sache für ihn gegessen. Keine Akte, kein Problem – so kann man es natürlich auch machen. Maier ging wenig später als glückloser Chefredakteur zum „Stern“, Leinkauf blieb bis heute.

Man kann sich denken, dass Leinkauf aus so einem Gespräch einigermaßen gespalten herausgekommen sein muss. Vielleicht hatte er mit seinem Rausschmiss gerechnet, mit seiner Demission bis zur Aufklärung der Sachverhalte – stattdessen ging alles weiter wie bisher. Auch die Angst, dass irgendwann doch eine Akte auftauchen würde, muss Leinkauf weiter im Nacken gesessen haben. Aber es wird ihn beruhigt haben, dass er in diesem Falle immer hätte sagen können, dass er sich bei Maier in einem Vier-Augen-Gespräch längst selbst bezichtigt hatte. Und so kam es denn ja auch.

Nun ist die Akte also da und bei der „Berliner Zeitung“ mal wieder Land unter. Unglaublich, dass diese Zeitung angesichts der ganzen Querelen der vergangenen Jahre – unklare Eigentumsverhältnisse, Einzug eines Investors mit eisernem Spardiktat und jetzt die Stasi-Debatte – überhaupt noch erscheint, ja die Redaktion bessere Arbeit abliefert als der Konkurrent „Tagesspiegel“. Besonders die Seite 3 ist ein Aushängeschild und an einigen Tagen besser als die Auslandskorrespondentenabwurfstelle der „Süddeutschen“. Dadurch hat das ehemalige SED-Blatt viele neue Leser gefunden, vor allem im Westen. Und auch innerhalb der Redaktion herrschte immer ein kreatives Klima, so ganz ohne Alphajournalisten-Gewese, ohne Ost-West-Anfeindungen, in familiärer Atmosphäre konzentriert auf die Qualität. Nur deswegen steht die Zeitung trotz des Einfalls eines gierigen Investors, trotz des Wirkens eines Chefredakteurs, der gleichzeitig als oberster Einsparer fungiert, und trotz des ständigen Aderlasses journalistisch so gut da. Das ist auch entscheidend Leinkaufs Verdienst.

Thomas Leinkaufs Akte ist nach allem, was man weiß, zwiespältig. Einerseits finden sich darin Passagen, die Leinkauf als alles andere als einen willigen Zuträger darstellen. Unzuverlässig sei er gewesen, trotzkistische Ansichten habe er gehabt und insgesamt war er als IM „Gregor“ so unbrauchbar, dass die Stasi nach 20 Monaten auf ihn verzichtete. Da hat man schon von beflisseneren IMs gehört. Einer davon ist Leinkaufs Kollege Ingo Preißler, der Leinkaufs Enttarnung zum Anlass nahm, sich ebenfalls zu offenbaren und der seit den 70ern bis zur Wende Leute bespitzelte. In der Redaktionskonferenz gab es Tränen, und seitdem herrscht eine große Verunsicherung, was man nun tun soll: Leinkauf und Preißler entlassen? Eine neue Überprüfung der ganzen Redaktion in die Wege leiten? Jeden Tag gibt es neue Vorschläge.

In Leinkaufs Akte finden sich auch beschämende Passagen wie die über die vermeintlich promiskuitive Frau – der Fall ist also nicht einfach. Dennoch fragt man sich, was ist eigentlich so schwer daran, trennscharf zu bleiben und genau hinzuschauen, was jemand getan hat, um dann souverän und mit Augenmaß zu urteilen? Ist jemand durch Leinkaufs Berichte ins Gefängnis gekommen? An der Republikflucht gehindert worden? Oder anders zu Schaden gekommen? Dass hingegen plötzlich jeder Artikel, der unter seiner Ägide entstanden ist, auf das Gedankengut von früher hin abgeklopft wird, ist unlauter. Das ist so, als wäre man jahrelang gern in ein Restaurant gegangen und würde es plötzlich meiden, weil der Wirt keine Genehmigung hat.

Man sollte im Falle Leinkauf bedenken, dass er nach seiner kurzfristigen adoleszenten Verirrung für das repressive System nicht mehr zu haben war, obwohl er in exponierter Stellung – eben im Journalismus – arbeitete. Das spricht für ihn. Ebenso, dass es Journalisten gibt, die mehr für die Stasi und weniger für die publizistische Einheit getan haben als Thomas Leinkauf. Also sollte er weiterarbeiten dürfen – auch als Ressortleiter. n

*Oliver Gehrs hat von 1996 bis 1998 bei der „Berliner Zeitung“ gearbeitet

Erschienen in Ausgabe 5/2008 in der Rubrik „journaille“ auf Seite 12 bis 13. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.