In null Komma nichts live im Netz

Als ein Student der Virginia Tech University in den Morgenstunden des 16. April 2007 kaltblütig 32 seiner Kommilitonen erschoss, herrschte in den US-Medien heillose Verwirrung. Die Polizei hatte das Campus-Gelände großflächig abgesperrt. Informationen über die Zahl der Opfer, die Identität des Täters und sein Motiv sickerten nur langsam durch. Nachrichtensender wie CNN wiederholten über Stunden immer wieder die gleichen Gerüchte und Mutmaßungen.

Am frühen Nachmittag gelang es schließlich dem US-Fernsehsender CBS, exklusiv ein erstes Interview über die Ereignisse des Tages mit einem Mitarbeiter der lokalen Studenten-Zeitung aufzunehmen. CBS nutzte dafür eine eigenwillig improvisierte Live-Schaltung: Die Webcam des betreffenden Studenten übertrug das Interview zur Web-Video-Plattform Ustream.tv. Der Fernsehsender übernahm diesen Stream wiederum in sein reguläres Programm.

Nutzer. Ustream wird täglich von Tausenden von Webcam-Besitzern genutzt, um damit in Echtzeit Videobilder ins Netz zu übertragen. Die meisten Sendungen sind dabei zum Glück weit weniger spektakulär als die Eindrücke vom Virgina Tech-Massaker. Videogame-Fans nutzen die Website, um sich damit live beim Meistern ihrer Lieblingsspiele über die Schulter gucken zu lassen. Mehr oder weniger talentierte Musiker übertragen Probeauftritte direkt aus dem Hobby-Keller. Manch einer filmt sich auch einfach nur stundenlang am Schreibtisch sitzend beim Durchstöbern des Internets.

Neu sind solche Live-Videos im Internet nicht. Bereits seit Mitte der Neunziger experimentieren Netznutzer mit Webcams. Doch die billigen Netz-Video-Kameras der ersten Stunde taugten meist nur für regelmäßig aktualisierte Standbilder. Wer mehr wollte, brauchte dafür neben professioneller Kameratechnik vor allen Dingen auch leistungsfähige Webserver und genügend Internet-Bandbreite. Live-Videos waren damit im Netz lange Zeit ein teures Vergnügen, das nur kommerziellen Anbietern vorbehalten war.

Billige Camcorder, Webcams und Video-Handys sowie rasant sinkende Übertragungspreise haben dazu geführt, dass mittlerweile auch Amateure im Netz eine Heimat für ihre Bewegtbilder gefunden haben. YouTube läutete diese Online-Video-Revolution mit Zigtausenden von Wohnzimmer-Aufnahmen ein. Ustream will diese Entwicklung nun mit kostenlosen Live-Übertragungen fortführen. „Ustream ermöglicht es jedem, live im Netz zu senden“, erklärt Firmenmitbegründer John Ham. „Man braucht dazu lediglich eine Webcam – und schon kann man von Hunderten, Tausenden oder Zehntausenden von Zuschauern gesehen werden.“

Liveberichterstattung. Derartige Möglichkeiten bleiben auch Medienmachern nicht lange verborgen. So entdecken immer mehr US-amerikanische Online-Journalisten Ustream für sich. Ein Beispiel dafür ist die Berichterstattung der „South Bernadino Sun“ von den Waldbränden in Südkalifornien im Sommer 2007. Reporter der Tageszeitung berichteten live und vor Ort von den Feuern und integrierten die Videos über Ustream in die Website ihres Blatts. „Das war ein interessantes Beispiel dafür, wie eine Tageszeitung mit der Arbeit der TV-Netzwerke konkurrieren kann“, meint Ham.

Online-Journalist Rafe Needleman vom Technologie-Blog Webware.com ist ebenfalls von den Möglichkeiten derartiger Live-Sendungen angetan. Needleman nutzte Ustream versuchsweise dazu, Interviews in Echtzeit ins Netz zu übertragen. „Ich fand, dass dies ein echter Service für meine Leser war“, erklärt Needleman. „Sie konnten sehen, was ich sah und sich ihr eigenes Urteil machen. Ich konnte später immer noch meinen eigenen Kommentar dazu schreiben.“

Die Direktheit der Live-Bilder ist es denn auch, die viele Video-Pioniere für Ustream und vergleichbare Plattformen begeistert. So begann der bekannte US-Blogger Robert Scoble vor ein paar Monaten damit, für das US-Wirtschaftsmagazin „Fast Company“ Live-Videos auf Konferenzen und Branchenevents zu schießen. Scoble bedient sich dazu eines Mobiltelefons mit integrierter Video-Kamera und Internet-Anbindung. Seine Gesprächspartner überrascht er zu Beginn seiner Interviews gerne mal mit dem Hinweis, dass sie jetzt „live im Internet“ seien.

Noch einen Schritt weiter geht der kalifornische Startup-Gründer Justin Kan. Mit einer in seine Baseball-Mütze integrierten Kamera begann Kan vor gut einem Jahr damit, sein Leben rund um die Uhr im Netz zu übertragen. Kan nutzte diese eigenwillige Big Brother-Variante, um für die Live-Streaming-Plattform seines Unternehmens Werbung zu machen.

Rafe Needleman verfolgt diese Entwicklung mit deutlicher Skepsis. So verwehrt er sich energisch gegen die Idee, als Online-Journalist pausenlos Videobilder ins Netz zu übertragen. „Ich will nicht wie Justin Kan mit einer Kamera auf meinem Kopf rumlaufen“ erklärt er. „Ich mag meinen Job. Ich mag es, viel und hart zu arbeiten. Aber ich will mein Privatleben und meinen Job getrennt halten.“

Zustimmung erntet er dafür von Ustreams John Ham. Der Firmengründer hatte sich anfangs selbst als Live-Klatschreporter versucht, um Ustream bekannter zu machen. Mit Kamera und pausenloser Internet-Anbindung verfolgte er dazu im Paparazzi-Stil Hollywood-Berühmtheiten – eine Erfahrung, die er im Nachhinein als „sehr ermüdend“ beschreibt. „Ich war mir stets bewusst, dass mir Leute pausenlos zuschauten“, so Ham. „Langfristig ist so etwas nur schwer durchzuhalten.“

Needleman ist sich trotzdem sicher, dass wir in Zukunft noch mehr Online-Reporter mit Handy-Kameras und pausenlosen Live-Shows sehen werden. „Journalismus ist im Wandel“, erklärt er. Ein Grund dafür sei, dass Plattformen wie Ustream Amateuren eine Bühne bieten. „Unterbezahlte, enthusiastische junge Menschen ohne Familienanhang können ihre Leben in einer Form ins Netz stellen, zu der alteingesessene Journalisten mit 25 Jahren Berufserfahrung nicht bereit sind“, so Needleman.

Dabei komme es zwangsläufig zu einem Kampf um die Aufmerksamkeit der Zuschauer. „Es ist ein ungleicher Kampf“, glaubt er. „Erfahrung, Kontakte und Vertriebswege auf der einen Seite gegen Initiative, Verschmitztheit und eine kleine, aber extrem engagierte Fan-Basis auf der anderen. Beide Seiten haben ihre Vorteile. Wir haben es nur noch nicht geschafft, einen guten Mittelweg zu finden.“

Needleman selbst will auch in Zukunft weiter mit Live-Videos experimentieren und damit seine eigenen journalistischen Möglichkeiten erweitern. „Ich mag die Abwechslung“, gibt er zu. „Ich mag es, dass ich nicht mehr gezwungen bin, alle Inhalte in eine bestimmte Form zu gießen.“ Stattdessen könne er bei jeder Story entscheiden, ob sich ein Blog-Eintrag, ein Podcast oder ein Live-Video am besten zur Umsetzung eigne. „Ich möchte mich nicht auf eines dieser Medien festlegen, sondern sie alle nutzen.“ n

Linktipp:

Robert Scobles Handy-Videos gibt es zu sehen unter: www.fastcompany.tv

Rafe Needlemans Blog findet sich unter www.webware.com

Justin Kan sendet unter www.justin.tv

Erschienen in Ausgabe 5/2008 in der Rubrik „“ auf Seite 70 bis 71 Autor/en: Text Janko Röttgers. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.