Fragwürdiges Interview-Urteil

Ein Hamburger Richterspruch alarmiert die Medienbranche: Wurde schon wieder die Rechtsprechung zu Lasten freier Berichterstattung verschärft? Einige sehen das „Ende des Interviews“ gekommen, sollte das Urteil Bestand haben. Worum geht es wirklich?

Der Fall. Die „Saarbrücker Zeitung“ hatte am 14. September 2007 in ihrem Kulturteil ein Gastspiel im Staatstheater angekündigt und dazu ein Interview mit Roger Willemsen gedruckt, Überschrift: „, Heute wird offen gelogen‘ – Roger Willemsen über sein gemeinsames Lügen-Programm mit Dieter Hildebrandt“. Im Vorspann erklärte die Zeitung, Willemsen mache mit dem Kabarettisten Hildebrandt in einem Bühnenprogramm („Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort“) gemeinsame Sache, beide „durchleuchten … die Weltgeschichte der Lüge“. Sie fasste einführend zusammen, im nachfolgenden Interview mit Willemsen werde über „Lügengespinste“ gesprochen. Die vier Fragen und Antworten behandelten historische und aktuelle, öffentlich diskutierte Ereignisse, die Show und deren Inhalte. Dieter Hildebrandt, so weiß man, ist einer der anerkanntesten Kabarettisten und Satiriker, Roger Willemsen u. a. als Autor überzeichnender Essays und halbfiktionaler Geschichten bekannt. Alles Satire also, auch dieses Interview zur Show, gedeckt von der Meinungs- und Kunstfreiheit, somit nicht justiziabel – sollte man meinen.

Helmut Markwort allerdings, den Willemsen in dem Interview u. a. erwähnte, nahm dessen gedruckte Worte ernst. Er verklagte die Zeitung auf Unterlassung wegen der Verbreitung wahrheitswidriger Tatsachen, weil es in dem Interview u. a. hieß: „Das, Focus‘-Interview, das Markwort mit Ernst Jünger geführt haben will, war schon zwei Jahre zuvor in der, Bunten‘ erschienen.“ Das Hamburger Landgericht bestätigte den Kläger: Markwort hatte weder selbst ein Interview mit Jünger geführt, noch dieses behauptet, es habe sich auch nicht um identische Interviews in „Bunte“ und „Focus“ gehandelt, lediglich einige Passagen seien gleich, Willemsen suggeriere aber mit seiner Aussage „Vollidentität“.

Der Hintergrund: „Focus“ hatte im September 1993 berichtet, einer seiner Autoren habe „in letzter Zeit“ Ernst Jünger besucht und zitierte aus diesem Gespräch. Wortgleiche Teile waren bereits in einem Bericht der „Bunten“ im März 1991 erschienen., was Markwort laut Hamburger Landgericht „nicht bekannt“ war.

In seiner Urteilsbegründung stellt das Gericht besonders strenge Grundsätze für die Verbreitung von Interviews durch die Presse auf. Generell sei nicht ausreichend, dass eine Zeitung zu den Äußerungen des Interviewten nur dadurch Distanz hält, dass sie sich die Äußerungen nicht „zu eigen“ macht (in diesem Punkt habe die „Saarbrücker Zeitung“ sich korrekt verhalten). Vielmehr sei eine zusätzlich inhaltliche Distanzierung erforderlich, indem der Journalist kritische redaktionelle Anmerkungen macht..

abweichende Urteile. Ähnliche Fälle wurden von anderen Gerichten ganz anders entschieden. Ein Beispiel: In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) hatte sich eine bekannte deutsche Frauenrechtlerin über das Frauenbild der islamischen Gemeinde Milli Görüs e.V. geäußert. Der Verein verlangte da- raufhin von der „FAZ“ Unterlassung einiger Tatsachenaussagen aus dem Interview. Im Prozess vor dem Landgericht und Oberlandesgericht München konnten jene Aussagen nicht bewiesen werden. Trotzdem wurde die „FAZ“ nicht zur Unterlassung verurteilt. (Urteil v. 12. 12. 2006, 18 U 4341/06, AfP 2007, 229).

Durfte also bislang eine Zeitung jedes Zitat, jedes Interview ohne Rücksicht auf dessen Inhalt verbreiten, solange es nur zwischen Anführungszeichen gesetzt oder in anderer Weise als Äußerung eines nicht zur Redaktion gehörenden Dritten kenntlich gemacht wurde? Nein. Medien haften grundsätzlich auch für das reine Verbreiten von Zitaten, Interviews, Leserbriefen oder anderen Formen von Dritt-Äußerungen. Ausnahme: Das Live-Interview in Hörfunk oder Fernsehen. Die elektronischen Medien stellen hier nur einen „Markt der Meinungen“ dar, ihnen wird deshalb von den Gerichten keine Haftung für Fremd-Äußerungen in Live-Sendungen auferlegt.

Weil Print-Medien dagegen ein Interview noch redigieren können, haben sie seit jeher eine Pflicht, den verbreiteten Inhalt vorher zu prüfen. Den Umfang dieser Pflicht hat das OLG München im „FAZ“-Fall zugunsten der Presse eingegrenzt. Die Redaktion muss demnach bei Abdruck eines Interviews nicht jede vom Interviewpartner aufgestellte Behauptung prüfen. Wie auch beim Abdruck von Leserbriefen müssten die aufgestellten Behauptungen nur dann überprüft werden, wenn sie eine besonders schwere Beeinträchtigung von Persönlichkeitsrechten enthalten.

Im „FAZ“-Fall ging es um die Behauptungen, der Islamische Verein trete „für keinen Schulsport für Mädchen“ und „keinen Sexualkundeunterricht für Kinder“ ein. Wegen der Unwahrheit dieser Aussagen werde das Persönlichkeitsrecht der Islamischen Gemeinde zwar verletzt, so das OLG München, aber eine besonders schwere Beeinträchtigung im Sinne von „ehrverletzend“ oder „beleidigend“ sei dies nicht. In diesem Falle mussten die Aussagen der Interview-Partnerin nicht auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden, allerdings dürfen die Behauptungen nicht nochmals verbreitet werden, nachdem sie sich als falsch erwiesen hatten.

Die Rechtsargumente. Interviewer müssen jedoch generell eine weitere Bedingung erfüllen: Sie dürfen sich – auch nur leicht verletzende – Äußerungen des Gesprächspartners nicht „zu eigen“ machen – wie es durch zustimmende Fragen, redaktionelle Anmerkungen oder Überschriften zum Interview zum Ausdruck gebracht werden könnte. Die „FAZ“ hatte diese Bedingung erfüllt. Ist das nicht der Fall, haftet das Medium genauso wie derjenige, der die Behauptung aufstellt.

Eine Haftung ist grundsätzlich ausgeschlossen, wenn an der Verbreitung der Behauptung ein Informationsinteresse besteht und das Medium sich vom Inhalt distanziert. Oder wenn das Verbreiten einen Meinungsstand dokumentiert, in dem Äußerungen und Stellungnahmen zusammen- und gegenübergestellt werden. Ein Informationsinteresse kann sich auch durch die interviewte Person selbst ergeben, sodass sogar ein Zitat mit beleidigendem Inhalt verbreitet werden kann.

Das war beispielsweise in einem „Bild“-Artikel der Fall: Dort hieß es, der Künstler Wolf Biermann habe anlässlich einer Sondervorstellung bei der CSU über den letzten Innenminister und stellvertretenden Ministerpräsidenten der DDR gesagt: „Dieser Mann ist solche Bundesscheiße, da möchte man überhaupt nicht reintreten.“

Das Bundesverfassungsgericht sah zwar durch diese Äußerung das Persönlichkeitsrecht des so Beschimpften verletzt, weil sie eine Schmähkritik darstelle. Die Zeitung habe sich aber den Inhalt nicht zu eigen gemacht. Zudem seien der beschimpfte Politiker ebenso wie der Künstler öffentlich bekannt, Biermann auch als DDR-Dissident und Kritiker aktueller politischer Verhältnisse. Die Öffentlichkeit habe ein berechtigtes Interesse an Informationen über ein Spannungsverhältnis zwischen den Personen, die in der DDR auf Grund ihrer beruflichen und politischen Tätigkeit prominent waren. (BVerfG NJW 2004, 590)

Folgen für die Praxis. Unabhängig von der Prüfpflicht sollte sich eine Redaktion im Zweifel bei weniger spektakulären Fällen von Zitaten ehrverletzenden Inhalts distanzieren. Wie deutlich die Distanzierung sein muss, hängt vom Einzelfall ab. Häufig genügt schon die Angabe der Quelle oder das Gegenüberstellen unterschiedlicher Positionen.

Das Landgericht Hamburg verlangt hingegen nun beim Interview eine generelle Distanzierung, weil die Interview-Form allein keine hinreichende Distanzierung beinhalte – eine gefährliche und realitätsferne Vorstellung von redaktionellen Abläufen und einem ordentlich geführten Interview: Der Gesprächsfluss würde gestört, die freie Informationsgewinnung behindert.

Im Fall der „Saarbrücker Zeitung“ lässt sich über die Feststellung des Landgerichts, es fehle eine solche Distanzierung
der Zeitung, im Übrigen auch noch streiten. Das Gericht befand, auf Grund der Fragestellung habe „zwischen dem Interviewer und Willemsen Übereinkunft über das Bestehen der von Willemsen festgestellten Lügen“ bestanden, es „ist jedenfalls nach dem Gesamtzusammenhang des Interviews eine Distanzierung nicht gegeben“ (Seite 8 der Urteilsgründe). Das kann man auch anders sehen: Der Interviewer spricht eingangs von „Lügengespinsten“ und leitet das Interview mit Ironie ein: „Sie machen gemeinsame Sache mit Dieter Hildebrandt. Wie finden zwei, Rampensäue‘ zusammen?“ Und Willemsen beginnt seine Antwort, die auch Markwort betrifft, mit den Worten: „Wir haben den Ehrgeiz, ein paar Lügen aufzudecken. Wobei wir hoffen, dass man uns nachweist, dass wir uns irren.“

Das Urteil in Sachen Helmut Markwort gegen „Saarbrücker Zeitung“ ist nicht rechtskräftig, der Verlag der „Saarbrücker Zeitung“ hat Berufung eingelegt. Ob das Hanseatische Oberlandesgericht die Entscheidung des Landgerichts aufhebt, darf mit Spannung erwartet werden – nicht zuletzt auch unter dem Gesichtspunkt von Satire und Meinungsfreiheit.

Linktipp:

Das Urteil des Landgerichte Hamburg stammt vom 29. 2. 2008 (Aktenzeichen 324 O 998/07). Einen anonymisierten Auszug hat Burdas Rechtsvertreter, Kanzlei Schweizer, auf ihrer Homepage veröffentlicht: www.kanzlei-prof-schweizer.de/bibliothek/urteile/index.html?id=13917

Erschienen in Ausgabe 6/2008 in der Rubrik „Beruf“ auf Seite 26 bis 27 Autor/en: Dorothee Bölke. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.