„No Fear“

Nach Israel? Als ich im Sommer 2002 Familie und Freunden mitteile, demnächst nach Israel zu ziehen, wollen die das zunächst nicht glauben. Schließlich ist die „zweite Intifada“, der Aufstand der Palästinenser gegen die – wie sie es nennen – israelische Besatzung, in vollem Gang. Fast täglich üben palästinensische Selbstmordattentäter Anschläge in Jerusalem aus, sprengen Busse, Restaurants oder Discos in die Luft. Fast täglich gibt es Tote und Verletzte. Und da soll ich nun hin? Nein, ich will. Es ist die einzige Möglichkeit, nach jahrelanger Fernbeziehung mit meinem Verlobten zusammenzuleben. Er, damals RTL-Korrespondent in Moskau, soll für RTL nach Jerusalem, um über den Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis zu berichten. Ich stoße aus Berlin und Stuttgart dazu, wo ich als freie TV- Moderatorin und Nachrichtenredakteurin für die Deutsche Welle und den SWR gearbeitet habe. Meine doch heile und sichere Welt tausche ich ein gegen ein Leben in einem der gefährlichsten Gebiete der Welt: der Terrorhauptstadt Jerusalem.

Trügerische Normalität. Der Alltag im jüdischen West-Jerusalem, wo wir wohnen, setzt mir zunächst dann auch mehr zu, als ich angenommen hatte. Das Leben hier scheint zwar ganz normal: Die Menschen gehen arbeiten, sie fahren Autos, es gibt Staus und die Kneipen sind gut besucht. Aber der Schein trügt. Ständig tauchen an neuen Straßenabschnitten so genannte „flying checkpoints“, „fliegende Kontrollpunkte“, der Israelis auf. Soldaten überprüfen Ausweise auf der Suche nach Terroristen. Vor jedem Café, Kino, Restaurant oder Supermarkt fordern mich bewaffnete Sicherheitsbeamte auf, meine Taschen zu öffnen.

Ständig durchwühlen Wildfremde meine Privatsachen nach Waffen. Man traut niemandem. Das Misstrauen färbt auch auf mich ab. Der flotte Spruch „zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort sein“, bekommt hier eine andere Bedeutung: Sieht der Mann da, der sich dem Café nähert, in dem ich sitze, verdächtig aus? Sollte gerade dieser Bus, der neben mir losfährt, in die Luft fliegen? Die Folge: Ich suche mir die kleinen Cafés aus, meide große Restaurants und volle Plätze, fahre kein Bus mehr und sehe zu, dass mir kein Bus zu nahe kommt. Ich kaufe im überschaubaren Tante-Emma-Laden ein, nachdem ich erfahren habe, dass mein gut sortierter Supermarkt bereits drei Mal Ziel eines Anschlags war. Wer braucht schon Körnerbrot oder Häagen-Dazs?

Angst macht müde. „No Fear“ steht auf den autobreiten Stickern, die sich die Juden trotzig während der „Intifada“ an ihre Heckscheibe kleben. Sie machen sich Mut, sie wollen ausgehen, Spaß haben, leben. Nach dem Motto: Jetzt erst recht. Sie werden fatalistisch, um weiter leben zu können. Ich auch. Denn Angst haben macht müde. Also gehe ich doch wieder in den Supermarkt und kaufe Häagen-Dazs Eis. Ich gehe ins Restaurant mit dem bewaffneten Sicherheitsbeamten und bin jetzt froh, dass er da steht.

Auch meine Arbeitswelt hat sich schlagartig geändert. Für meinen Freund sind die Arbeitsumstände hier lange nicht so gewöhnungsbedürftig: Angola, Bosnien, Irak, Afghanistan waren bereits seine Einsatzgebiete. Er kennt die Absprachen mit dem Militär, wenn zum Beispiel ein Dreh im Gazastreifen bevorsteht und das Risiko, das dennoch bleibt. Er kennt die lebensnotwendigen Sicherheitsrecherchen, die man anstellen muss, bevor es ins Westjordanland geht. Ich hingegen arbeite zum ersten Mal in einem Krisengebiet. Und meine neuen Arbeitsbedingungen stellen mich bei jedem Auftrag vor neue Herausforderungen: So führt mich eine Reportage über eine jüdische Siedlung im Westjordanland über den gefährlichsten Straßenabschnitt zu jener Zeit: Palästinenser schießen in ihrer Wut und Verzweiflung nicht selten gezielt auf vorbeifahrende Autos der Siedler. Einen Panzerwagen für 1.000 Dollar am Tag kann ich mir als Freie für diese Reportage nicht leisten und muss abwägen, ob ich das Risiko eingehe oder nicht. Ich mache die Reportage mit unserem Privatwagen und deutschem Kennzeichen. Der „Press“-Aufkleber und die kugelsichere Weste müssen reichen. Ob in Deutschland irgendeiner diese Arbeitsbedingungen nachvollziehen kann?

Berufsrisiko. Bei einer anderen Reportage in Jericho über Palästinenser, die EU-Fördermittel für einen eigenen Betrieb erhalten, damit sie trotz Wirtschaftsembargo der Israelis überleben können, stecke ich plötzlich am Checkpoint fest. Die Israelis haben den Übergang vom Westjordanland auf israelisches Gebiet gesperrt, weil sie einen Terroristen in der Nähe vermuten. Nichts bewegt sich. Es folgen stundenlanges Warten und viele Fragen eines Soldaten: „Wer sind Sie, woher kommen Sie, was haben Sie gemacht, wen haben Sie gesprochen, wohin wollen Sie?“ Dann wieder Warten. Warum und wie lange noch, bleibt im Unklaren. Irgendwann winkt mich ein junger Grenzsoldat weiter. Der Palästinenser hinter mir hat keine Chance. Heute kann er nicht zur Arbeit und Geld verdienen. Vielleicht morgen.

Freie Fahrt im Heiligen Land hat nicht jeder: Mit deutschem Pass und israelischem Journalistenausweis leben und arbeiten wir hier privilegiert. Wir können, wie kein Israeli oder Palästinenser es kann, überallhin reisen: von Jerusalem nach Ramallah, Tel Aviv, Jenin oder gar Gaza. Wir können uns dies- und jenseits der Mauer aufhalten, die die Israelis errichtet haben, um sich vor den Palästinensern und möglichen Attentaten zu schützen. Wir können eintauchen in den Konflikt, hautnah darüber berichten, um uns dann wieder in unserem ländlichen Vorort „En Kerem“, westlich von Jerusalem, in unser Haus zurückzuziehen. „Normal“ leben – so gut es geht.

Aber eben nur „so gut es geht“. Denn der Konflikt zwischen Israelis und Palästinenser holt einen überall ein – selbst in unserem idyllischen grünen Tal „En Kerem“, das nicht nur für seine einzigartige Vogelwelt bekannt ist, oder dafür, dass Johannes der Täufer von hier stammt. Einhundert Meter von unserem Wohnort entfernt wurde er geboren. En Kerem war bis 1948 ein rein christliches, palästinensisches Dorf. Palästinenser sieht man heute hier nur den Müll wegtragen oder die jüdischen Gärten pflegen. Nur vierhundert Meter Luftlinie von unserem Haus entfernt, auf dem nächsten Berg, thront das berühmte Hadassah-Krankenhaus: Israels Terrorkrankenhaus Nummer eins. Wann immer es einen Anschlag gibt, kommen die meisten Opfer hier hin. Das beste Frühwarnsystem, das wir als Journalistenpaar haben können. Heult eine Ambulanzsirene nach der anderen, wissen wir früher als viele andere: Da ist wieder was passiert. Und wir wissen, dass jetzt palästinensische wie israelische Ärzte Seite an Seite versuchen, israelisches und palästinensisches Leben zu retten: Das der Opfer und nicht selten das des Täters. Das gehört zu den paradoxen Seiten des Alltags in Israel.

Familienbande. Was immer ich mir vor mehr als fünf Jahren für meine Zeit in Israel vorgenommen habe, vieles ist überraschend anders gekommen: Ich bin immer noch hier. Ich habe geheiratet und im Terrorkrankenhaus Hadassah drei Kinder zur Welt gebracht. Wir führen ein normales Familienleben, „so gut es eben geht“: Unsere beiden ältesten Jungen gehen in En Kerem in den hebräischen Kindergarten und wachsen zweisprachig auf. Sie spielen mit Nachbarskindern, toben auf Spielplätzen herum, gehen mit uns in den Zoo oder an den wunderschönen Strand in Herzeliya bei Tel Aviv. Sie essen die von meinem Mann gekochten Königsberger Klopse genauso gerne wie Pita mit Humus. Sie haben eine glückliche Kindheit hier, nicht nur weil die Sonne scheint und die Menschen so kinderfreundlich sind, sondern weil sie vieles noch nicht verstehen: Dass die Kampfjets und Kampfhubschrauber nicht aus Spaß über uns hinwegfliegen, sondern Ziele in Gaza anpeilen, oder, wie während des Krieges 2006, Ziele im Libanon. Sie verstehen nicht, dass der palästinensische Gärtner aus Bethlehem mal kommt, mal nicht, weil es von den Israelis abhängt, ob sie ihn durch die Kontrollen lassen. Sie kriegen nicht mit, dass in der israelischen Stadt Sderot, gerade mal 150 Kilometer von uns entfernt
, manchmal bis zu 20 Raketen am Tag aus Gaza einschlagen. Sie kriegen das Leid nicht mit, den Hass, den Streit ums Heilige Land, dass Menschen sterben müssen, weil kein Frieden möglich zu sein scheint.

Wir jedoch kriegen all das mit und das macht das Leben hier oftmals bedrückend. Dabei haben wir auf beiden Seiten gastfreundliche, warmherzige, Frieden suchende Menschen getroffen. Ich jedenfalls empfinde Israel als eine Bereicherung in meinem Leben. Auch weil ich meine Angst überwunden habe.

Benita von Kyaw war u.a. freie TV-Moderatorin und Redakteurin

beim SWR und der Deutschen Welle, arbeitet seit 2002 als freie Journalistin in Israel.

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Erschienen in Ausgabe 6/2008 in der Rubrik „Leben“ auf Seite 78 bis 80 Autor/en: Benita von Kyaw. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.