Berliner Blockaden

Der Satz stammt von Ernest Hemingway, aber er gilt auch für Journalisten ohne jede Hoffnung auf den Nobelpreis: „The most essential gift for a good writer is a built-in, shockproof shit detector.“

Warum scheint es uns so, dass heute sehr viel mehr Journalisten mit Blackberrys ausgestattet sind, als mit dem Hemingway’schen „shit detector“? Um diese Frage geht es, wenn Leif Kramp und Stephan Weichert in ihrer Studie „alarmierende Missstände im praktizierten Hauptstadtjournalismus“ beklagen (s.Seite 62 ff.).

Auf dem Servierteller. Natürlich, immer hängt alles am Vergleichsmaßstab. Gemessen an den (deutschen) EU-Korrespondenten in Brüssel schreiben die Berliner Hauptstadtreporter frisch und frech. Verglichen mit dem, was manche US-Blätter oder die britische Presse ihren Regierenden zumuten, ist die deutsche Hauptstadtberichterstattung oft betulich und staatstragend. Wobei der von Kramp und Weichert zitierte Vergleich mit den Watergate-Enthüllern Bob Woodward und Carl Bernstein ungerecht ist. Die waren ja gerade keine akkreditierten Whitehouse-Reporter, sondern junge Lokaljournalisten.

Aber richtig ist, dass in zu vielen deutschen Blättern erstaunlich viel Raum für abwägende Betrachtungen über die Lage der Partei X oder des Parteivorsitzenden Y ist. Während Themen liegen bleiben, die nicht von Parteiapparaten (und –intriganten) auf dem Servierteller präsentiert werden: etwa die Informationsblockaden, die das besonders strikte deutsche Amtsgeheimnis bis heute schafft. Weil deutsche Ministerien eben ganz gewiss nicht „durchsichtig-überkorrekt“ sind, wie die Netzwerk-Studie – erstaunlicherweise – behauptet. Das junge deutsche Informationsfreiheitsgesetz ist nun mal sehr, sehr viel restriktiver als sein lang etabliertes US-Gegenstück, das dort ein eminent wichtiges Rechercheinstrument für kritische Journalisten ist.

Auch der Einfluss der Lobby auf die Politik hat es bis heute in Berlin anders als in Washington nicht zum Aufreger gebracht – obwohl oder weil die Lobbyregulierung in Deutschland weit hinter dem Stand zurück geblieben ist, der in Amerika, Großbritannien und auch Osteuropa erreicht ist. Sogar die Namen ihrer Sponsoren aus der Wirtschaft hielten die deutschen Ministerien bis Anfang 2007 geheim – und erlaubten zugleich Lobbyisten, in den Regierungsstuben an Gesetzen mitzufeilen. Beide Fälle erschienen vielen Korrespondenten erst dann skandalös, als auch der Bundesrechnungshof die Kritik an den Praktiken amtlich machte.

Solches journalistisches Weggucken gab es in Bonn, es gibt es bis heute in Berlin. Die größere Aufgeregtheit und viel zitierte Beschleunigung der Berichterstattung nach dem Umzug hat daran nichts geändert, weder zum Guten noch zum Schlechten.

Wichtiger erscheint mir ein anderer Umstand, den auch Kramp und Weichert nennen: Der parteipolitisch motivierte Lagerjournalismus hat mit dem Regierungsumzug (und der Verrentung der Alt-68er unter den Korres- pondenten) stark an Boden verloren. Schon die CDU-Spendenaffäre wurde 1999 und 2000 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ fast so kritisch abgehandelt wie in der „Süddeutschen Zeitung“. Der Visa-Skandal, der Ende 2004 und Anfang 2005 der rot-grünen Koalition die letzten Tage verhagelte, war irgendwann ebenso Thema in „SZ“, „stern“ und „Spiegel“, wie in der „Welt“, die die Sache aufgebracht hatte.

Skandal, Skandal! Das ist ein Fortschritt. Die Kehrseite ist etwas, das man zugespitzt als hysteriegetriebene Berichterstattung bezeichnen kann. Wenn in Berlin ein Skandal als Skandal etabliert ist, rennen alle hinterher. Aber auch nur dann. Wenn ein Thema kein Thema ist, ist es keins und Punkt. „Agenda Cutting“ nennen Kramp und Weichert dieses Phänomen.

Anders gesagt: Der shit detector bleibt kollektiv ausgeschaltet.

Linktipps: Infos zum Informations- freiheitsgesetz und zur ersten Bilanz des Bundesdatenschutz- Beauftragten: www.bfdi.bund.de/IFG/Home/homepage__node.html

Erschienen in Ausgabe 7/2008 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 63 bis 63 Autor/en: Hans-Martin Tillack. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.