Die Mit-Mach-Zeitung

Die Zukunft der Zeitung ist crossmedial! Das hat die Zeitungsbranche beim Umbau der Verlage zu Medienhäusern inzwischen erkannt. Doch während allenthalben Websites relauncht, Newsdesks eingeführt und Online-Communities eröffnet werden, macht man bei der „Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen Zeitung“ (HNA) in Kassel (Gesamtauflage in Nordhessen: rund 235.000 Exemplare, Herausgeber: Verlag Dierichs/IppenGruppe) bereits den nächsten Schritt: Die Redaktion versucht im direkten Dialog mit der Zielgruppe sowohl die journalistische Qualität als auch das Denken in der Redaktion auf noch mehr Lesernähe zu trimmen. Doch wie geht das? In der Onlineredaktion setzt man beispielsweise konsequent auf die Echtzeitbeobachtung der Klicks auf der Website. „Das liefert uns wertvolle Hinweise darüber, welche Themen besonders gut laufen und welche nicht. Durch ständige Updates und Wechsel in der Themengewichtung folgen wir so den Interessen der User im Tagesverlauf“, so Jens Nähler, Leiter des Onlineressorts bei der HNA. Der Einsatz scheint sich zu lohnen: Die Seitenabrufe im redaktionellen Bereich der HNA konnten in nur sechs Monaten nahezu verdoppelt werden. Dieses Tempo schafft im Branchenvergleich kaum jemand. „Die gleichzeitige Steigerung bei den Besucherzahlen (Visits) entspricht dabei einem Zuwachs, als hätten wir eine neue Lokalausgabe dazugewonnen“, betont Nähler.

Vertrauen und Verantwortung. Als Onlinechef zeichnet er auch verantwortlich für die multimedialen und interaktiven Angebote des Webauftritts und baut im Kontakt mit der Online-Community auf direkte Kommunikation: „Wenn wir vom Mitmach-Netz à la Web 2.0 sprechen, reicht es nicht, nur die Technik hinzustellen. Die User erwarten den Dialog mit uns Machern. Durch Feedback aus der Redaktion zeigen wir den Leuten, dass sie ernst genommen werden“. Neben der systematischen Auswertung der Klickzahlen geht es bei der HNA also auch um den Aufbau von Reputation und Vertrauen. Hierzu gehört etwa auch das 2006 im Web gestartete Kassellexikon der HNA, das auf der gleichen Technik wie Wikipedia basiert und es den Nutzern gestattet, Seiten frei zu bearbeiten und Inhalte zu verändern. „Durch die enge Zusammenarbeit zwischen der Redaktion und unseren rund 450 Usern haben wir das Lexikon zum Regio-Wiki für unser komplettes Verbreitungsgebiet ausbauen können.“ Künftig will der Online-Ressortleiter einen Teil der Wiki-Nutzer gar mit Administratorenrechten ausstatten.

Neben den Erfolgen verraten die Klickzahlen aber auch, dass die klassischen Mantel-Ressorts online notorisch schlecht besucht sind. Aber heißt das in letzter Konsequenz, dass man sich Politik, Wirtschaft und Kultur im Web schenken kann? Für die HNA-Verantwortlichen ist die Antwort hier ein klares Nein: „Das wäre das Ende des qualitativen Journalismus. Wir können die wichtigen Themen des öffentlichen Lebens nicht einfach ausblenden. Als Regionalzeitung haben wir hier eine klare Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit,“ so HNA-Chefredakteur Horst Seidenfaden. Wo andere in der Branche online primär auf die Quotenbringer Sex, Crime und Fotostrecken schielen, schärft man in Kassel den Blick zusätzlich für die weniger nachgefragten Themen und versucht die Attraktivität der klassischen Mantelressorts zu steigern. Kampflos will Seidenfaden die Mantelthemen nicht aufgeben. Denn: „Letzten Endes geht es hier um ganze Berufsbilder. Auf Politikredakteure kann keine Zeitung verzichten, weder im Print noch online“, so die Überzeugung des HNA-Chefredakteurs. Doch wie den Mantel retten? Ähnlich wie bei den Onlineaktivitäten sieht Seidenfaden den Lösungsweg in der stärkeren Einbindung der Leser bei Auswahl und Gewichtung von Themen. Wie setzt die HNA das in der Praxis um?

Journalismus „on demand“. Bei Hintergrundthemen, wie etwa bei der aktuell im Wochenrhythmus laufenden China-Serie im Vorfeld der Olympischen Spiele, fordert die HNA-Redaktion ihre Leser in Print und online dazu auf, Themenvorschläge zu machen. „Wenn unsere Leser wissen wollen, was sie bei einer Urlaubsreise nach China beachten müssen oder was die besten Kochrezepte für den Wok sind, dann greifen wir diese Themenwünsche für die Serie auf“, erläutert Seidenfaden die Idee. In dem Fall war das Feedback allerdings gering, was die Macher aber insgesamt gelassen sehen: „Grundsätzlich wollen wir eine größere Leserbeteiligung ermöglichen und herausfinden, wie wir die Mantel-Ressorts im Sinne der Leser aufwerten können – das braucht eben seine Zeit“, so Seidenfaden, der die Leser an die Mit-Mach-Zeitung erst noch gewöhnen muss. Die Kritik, dass bei dieser Form von Journalismus die Themenkompetenz an die Leser abgegeben wird, kontert der HNA-Chef so: „Die Rückmeldungen geben uns ein zusätzliches Bild darüber, was unsere Leser haben wollen. Uns ist ein nicht repräsentatives Meinungsbild lieber als gar keines.“ Im Kalkül der HNA, durch mehr Leserbeteiligung die Qualität zu steigern, ist das Modell „Journalismus on demand“ nur einer von mehreren Wegen zum Ziel. Für Jan Schlüter, stellvertretender HNA-Chefredakteur, ist die übergeordnete Marschroute klar: „Als Journalisten müssen wir unseren Platz im Elfenbeinturm verlassen und den direkten Kontakt zu den Lesern suchen – und das auf allen uns zur Verfügung stehenden Kanälen.“ Neben der Kommentarfunktion bei Online-Beiträgen, Blogs und Foren gehört dazu für Schlüter auch der Griff zum Telefonhörer oder Präsenz direkt vor Ort: „Wenn die Leser ein Thema heiß diskutieren oder sie eine klare Meinung zu unserem Blatt vertreten, dann gehen wir dem nach, und zwar persönlich, und nicht über die Kundenbetreuung.“ Damit lebt die Redaktionsspitze ihren Mitarbeitern etwas vor, was sich laut Seidenfaden und Schlüter beginnt nachhaltig in der Redaktionskultur und den Köpfen des Teams einzuprägen: Das Selbstverständnis des Medienhauses wandelt sich weg vom distanzierten Beobachter hin zum aktiven Akteur in der regionalen Öffentlichkeit. In Sachen Unabhängigkeit sicherlich ein schmaler Grat, der hier eingeschlagen wird. Doch bei aller Leserbeteiligung und Einbindung der Onlinenutzer sehen die Verantwortlichen die publizistische Kompetenz und die professionelle Information weiterhin ganz in der Hoheit der Redaktion.

Pilotprojekt Bürgerplattform. Die HNA plant bereits das nächste Projekt, mit dem das kommunikative Wechselspiel zwischen Leserschaft und Redaktion weiter ausgebaut werden soll. Im Juli werden die Nordhessen online ein neues Bürgerforum starten, das sich entscheidend von einem klassischen Online-Diskussionforum abhebt. Denn die Identität der Nutzer wird so überprüft, dass der Deckmantel der Anonymität von Anfang an an der Garderobe hängen bleiben muss. Die Teilnehmer stehen mit ihrem vollen Namen für das, was sie auf der Plattform veröffentlichen, Fantasienamen sind dabei tabu. Dieser Ansatz soll interessierten Bürgern eine Plattform liefern, auf der sie Themen aus ihrem unmittelbaren Lebensumfeld ansprechen und mit den zuständigen Redaktionen diskutieren können. Aus diesem Grund ist die Betreuung des Bürgerforums auch nicht etwa bei der Kundenbetreuung angesiedelt, sondern getreu der HNA-Logik direkt bei der Redaktion. Das klare Ziel dabei: die Positionierung des Medienhauses im Verbreitungsgebiet als Informations- und Diskussionsplattform der Region. Ob sich die zahlreichen Aktivitäten der HNA in diese Richtung am Ende auch nachhaltig in mehr Leserbindung, einer Stärkung der Mantelressorts und letztendlich auch in ökonomischen Erfolgen niederschlagen werden, muss sich langfristig erst noch zeigen. Bis dahin ist der Weg zum Leser weiter das Ziel.

Linktipp:

Die HNA im Netz: www.hna.de

Erschienen in Ausgabe 7/2008 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 28 bis 29 Autor/en: Steffen Büffel. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.