Helden für einen Tag

Juli 2006, ein Sommerabend, den wir nicht vergessen werden: Im WM-Finale zwischen Frankreich und Italien versetzt Zinedine Zidane Marco Matterazzi einen Rammstoß auf den Solar Plexus, geht duschen und schließlich in die Geschichte ein.

700 Tage sind seitdem vergangen. Nun liegt das Berliner Olympiastadion da, die Stätte dieses Gladiatorenkampfs, und döst in der Bundesliga-Sommerpause. Fast scheint es, als sei der Lüster etwas stumpf geworden. Wenn da nicht diese Sonne wäre. Diese Sonne, die wir aus dem Jahre 2006 kennen. Diese Sonne, in denen die Helden standen, kämpfend, schwitzend, pochend vor Entschlossenheit. Diese Sonne, die alles zu einem Film machte, in der wir alle eine Nebenrolle spielten. Diese Sonne, sie taucht auch heute das Rund in jenes märchenhafte Licht.

Vorsicht! Lassen wir uns nicht blenden: Von den Spielern, die gleich den Rasen betreten, dürfen wir nicht dieselbe Athletik erwarten wie seinerzeit von den Italienern und Franzosen. Doch unter der Junisonne des Jahres 2008 können auch sie Helden sein – wenn auch nur für einen Tag.

Und noch mal Vorsicht! Mit allen Abwassern gewaschene Sportreporter würden auch in diese Partie eine ähnliche Rivalität hineindeuten, wie sie zwischen den Kontrahenten des Weltturniers bestand: Auf der einen Seite der FC Bundestag, eine Auswahl von Parlamentariern. Auf der anderen das Team des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) – diejenigen also, die von der Gegenseite in unbequemeren Zeiten nur „die Presse“ genannt werden.

Doch man ist nicht zusammengekommen, um offene Rechnungen per Grätsche zu begleichen. Es ist die Lust am Wettkampf, der die Spieler zusammengeführt hat, die integrative Kraft des Mannschaftssports und nicht zuletzt die bübische Freude, gegen den Ball zu treten. Was gibt es Schöneres, als die Kugel aus 40 Metern in den Winkel fliegen zu sehen? Darauf kann es nur eine Antwort geben: Sie aus 50 Metern in den Winkel fliegen zu sehen.

Auch Jürgen Rollmann, ehemaliger Bundesliga-Torwart, heute Journalist und für einen Tag Trainer des BDZV-Teams, glaubt nicht an eine Reminiszenz des Zidane-Wutausbruchs: „Ich sehe kein Konfliktpotenzial. Wir sind hier, um in diesem herrlichen Stadion einen schönen Abend zu erleben.“

Ob der Ausgang des Spiels für seine Mannschaft so schön sein wird wie das Ambiente, ist jedoch sehr fraglich. Die BDZV-Kicker stehen zum ersten Mal gemeinsam auf dem Platz. Der FC Bundestag indes gilt als eingespielt und wettkampferfahren. „Da müsst ihr jetzt durch“, ruft der ehemalige Weltklasseturner Eberhard Gienger, heute Abgeordneter der CDU und Leistungsträger des FC Bundestag, seinen Gegnern zu.

Und tatsächlich: Während Giengers Mannschaft sich warm macht, als hätte DFB-Fitnesspapst Oliver Schmidtlein das Programm ausgearbeitet, zeigt das BDZV-Team eher uninspirierte Balljonglagen. Zuweilen schweift der Blick über das weiträumige Geläuf. Wird die Kondition ausreichen? Unter den Schlachtenbummlern werden schon die Möglichkeiten der Schadensbegrenzung diskutiert. „Mensch, der Platz ist zu groß“, sagt einer. „Lasst die doch zu fünfzehnt spielen.“

Diese Regeländerung wird freilich abgelehnt. Coach Rollmann hat eine subtilere Idee: Auf seiner Aufstellung ist ein Ausputzer zu sehen, Martin Krigar vom „Westfälischen Anzeiger“. Ein Libero nach Art Otto Rehhagels? „Na ja, Libero würde ich das nicht nennen“, wiegelt Rollmann ab. „Krigar ist mein zentraler Mann in der Defensive, aus der he- raus wir kontrolliert angreifen wollen.“ Spricht’s und macht sich daran, seinen Mannen doch noch das professionelle Warmmachen näher zu bringen.

Derweil scheut sich Franz-Josef Jung, Verteidigungsminister mit CDU-Parteibuch und heute verblüffenderweise Linksaußen des FC Bundestag, nicht vor der Doppelbelas- tung und hält in kurzer Hose die Eröffnungsansprache. Er freue sich, dass es nicht allzu schwül sei, und wünsche allen Beteiligten „ein faires Spiel und alles Gute“. Helmut Heinen, Präsident des BDZV, nutzt die letzte Gelegenheit, um Druck von seiner Mannschaft zu nehmen: „Fußball ist ein völlig neues Feld für uns.“

Entweder hat dieser rhetorische Kniff eine entspannende Wirkung auf die BDZV-Elf oder aber das dilettantische Warm-Up war ein genialer Bluff. Denn vom Anpfiff weg zeigt sich der Außenseiter als das bessere Team. Nach nur 120 Sekunden erzielt Jan-Eric Peters von der „Axel Springer Akademie“ durch einen satten Flachschuss das 1:0. Die Vorlage kommt in Ballack-Manier von Christian Otto („Goslarsche Zeitung“). Überhaupt dieser Otto: Denker und Lenker im Mittelfeld und im Zusammenspiel mit seinem „Frings“, Konstantin Neven DuMont, eine Mittelfeldachse, die dem FC Bundestag massives Kopfzerbrechen bereitet. Ihre Mannschaftskameraden haben die Schlüsselbegriffe, die Rollmann ihnen im Crashkurs in der Kabine zugeraunt hat, ebenso verinnerlicht: Pressing, Forechecking, schnelles Umschalten. So resultiert auch das 2:0 aus einem gescheiten Gegenangriff, erneut eingeleitet durch Otto und abgeschlossen von Peters. FC-Bundestag-Keeper Scheuer (CSU) kann nur noch staunen.

„So kann das doch nichts werden“, grantelt ein kritischer Fan des FC Bundestag. Ein Ruck, wie Roman Herzog ihn einst forderte, müsste nun durch die Parlamentarier gehen. Und wirklich: Klaus Riegert, dem Kapitän, gelingt kurz vor dem Halbzeitpfiff der 1:2-Anschlusstreffer.

Ein schmeichelhaftes Zwischenresultat für die Politik. Auch Linksaußen Franz-Josef Jung muss im Blitz- interview dem Gegner Tribut zollen: „Ich hätte die Jungs nicht so stark erwartet“, schnauft er und lässt sich erschöpft auswechseln.

Vielleicht liegt es am Gegentreffer zum „psychologisch ungünstigen Zeitpunkt“, wie es in der „Sportschau“ heißen würde, vielleicht auch an den nun doch schwindenden Kräften, dass sich nach Wiederanpfiff ein gewisser Schlendrian in die Aktionen des BDZV-Teams schleicht. Einmal muss Rollmann seinen im ersten Durchgang noch überragenden Verteidiger Stephan Löwenstein („FAZ“), den es zur Trinkflasche zieht, ermahnen: „Du kannst doch nicht einfach rausrennen, Stephan!“

In der Schlussphase holen die Abgeordneten die Brechstange hervor, an der Linie wird panisch gestikuliert und angefeuert („Nun bewegt euch noch mal!“). Doch rechtzeitig rauft sich die BDZV-Defensive wieder zusammen, schon fiebern Rollmann und die Seinen dem Abpfiff entgegen. Endlich: Nach 60 Kräfte zehrenden Minuten gellt das ersehnte Signal durchs Rund. Die BDZV-Recken verschmelzen zu einer Jubeltraube.

Helden für einen Tag. „Es war wie ein Sommermärchen“, freut sich Jan-Eric Peters, der Mann des Tages. „Ich hätte gern noch ein bisschen weiter gespielt.“ Und mit einem Lächeln fügt er hinzu: „Aber genauso freue ich mich jetzt auf den Physiotherapeuten.“ Gleich nebenan verrät Erfolgscoach Rollmann sein Geheimrezept: „Ich habe den Jungs gesagt: Ihr müsst die Positionen halten!“, doziert er. „Wenn alle durcheinander laufen, fängt man sich ruckzuck drei Tore, und das Spiel ist gelaufen. Diese Vorgabe haben sie hervorragend umgesetzt.“

In seine Ausführungen mischen sich die ersten Takte eines Jazz-Quartetts, das auf den Rängen seine Instrumente aufgebaut hat. Würstchen brutzeln auf dem Grill, und als die Sonne hinter dem Marathontor verschwindet, sieht man die ersten Spieler schon geduscht und im Anzug im Zwiegespräch mit den mitgereisten Fans. Die ergriffen lauschen, als mit glänzenden Augen vom Abtauchen im Entmüdungsbecken der Profis erzählt wird und einem ganz besonderen Reinigungsgefühl: „Einmal duschen wie Oliver Kahn.“ Das EM-Gruppenspiel zwischen Italien und Frankreich, Neuauflage des Finales von 2006, flimmert über die Leinwände. Die Spieler des BDZV können es sich auf Augenhöhe ansehen. Helden sind sie nun ja selbst. Wenn auch nur für einen Tag, unter der Sonne des Juni 2008.

Linktipp: Mehr Fotos vom Spiel

Erschienen in Ausgabe 7/2008 in der Rubrik „Leben“ auf Seite 78 bis 81 Autor/en: Dirk Gieselmann. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.