Hohes Gut

Der Befund ist alarmierend: In deutschen Redaktionen mangelt es an Recherchekompetenz. „Das Übergewicht der rein auf Inhaltsproduktion abzielenden journalistischen Handlungen und die extrem untergeordnete Rolle des Überprüfens (von Online-Quellen) weist auf schwere Mängel in deutschen Redaktionen hin. Die Folge: Sorgfalt und vor allem inhaltliche Richtigkeit lässt sich nur noch durch Abstriche realisieren.“ Zu diesem Ergebnis kommt die aktuelle Studie „Journalistische Recherche im Internet“. Rund 600 Journalisten aller Gattungen hat das Team von Prof. Marcel Machill von der Universität Leipzig, der die Studie im Auftrag der Landesanstalt für Medien NRW (LfM) geleitet hat, schriftlich befragt und über 200 Journalisten bei ihrer Arbeit beobachtet.

Die wichtigsten ergebnisse der Studie: Das Telefon ist zwar nach wie vor das wichtigste Rechercheinstrument der Journalisten (15%) – gefolgt von redaktionsinternen Absprachen (12,9%), eMails (12,1%), Suchmaschinen/Webkatalogen (8,3%) und redaktionellen Webites (7,5%). Wenn Journalisten Informationen durch Zusatzquellen erweitern wollen, nutzen sie jedoch vor allem die Suchmaschinen im Internet – allen voran Google. Am zweithäufigsten greifen Journalisten auf andere redaktionelle Websites zurück – statt auf Primärquellen wie etwa Websites von politischen, wissenschaftlichen oder kulturellen Einrichtungen. „Man schreibt also sprichwörtlich voneinander ab“, kritisiert Marcel Machill, aber: „Nun ist es ja nicht so, dass Journalisten aus Faulheit auf die Überprüfung von Quellen verzichten.“ In den Arbeitstagen, die oft über acht Stunden hinausgehen, sei schlicht kein Platz mehr: „Wirtschaftliche Zwänge, die sich besonders auf personelle Besetzungen von Redaktionen auswirken, machen Recherchezeit zur Überprüfung zum fast unerreichbaren Luxus“ – eine gravierende Folge der „eingeschränkten Investitionsmittel in Zeiten der Medienkrise“.

Das betrifft vor allem „diE da unten“, die Rechercheure und Reporter im Lokalen. Freigestellt vom Redaktionsalltag sind dort nur die wenigsten. Den Luxus, sich tage-, gar wochenlang auf ein Thema konzentrieren zu können, hat kaum jemand von denen, die nicht bei den nationalen Meinungsführer-Medien arbeiten. Ihre Erfolge machen selten bundesweite Schlagzeilen wie die um Telekomgate (siehe Seite 20 f.). Und dennoch, allen Widrigkeiten zum Trotz, es gibt sie – die lokalen „Ermittler“, die in ihrer journalistischen Aufgabe mehr sehen als nur „Vereinsberichterstattung“ und Nutzwertjournalismus. Aber unter welchen Bedingungen arbeiten Lokaljournalisten – die doch nach wie vor das Gros der Journalisten stellen – heute, was erreichen sie und wie recherchieren sie? Wir haben uns für diese Ausgabe in vielen Redaktionen im Osten und Westen der Republik umgehört und bemerkenswerte Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede festgestellt (siehe Titelthema Seite 18 ff.).

Nahezu alle der befragten lokalen Profis nehmen übrigens über ihr Pflichtprogramm hinaus regelmäßig an Veranstaltungen und Seminaren teil, vom Lokaljournalistenprogramm der Bundeszentrale für Politische Bildung bis zum netzwerk recherche e. V. – und bestätigen eindrucksvoll die These von der Bedeutung der berufliche Weiterbildung für die Qualität journalistischer Arbeit.

Als Konsequenz ihrer Untersuchung fordern die Forscher übrigens nicht nur eine intensivere Weiterbildung, sondern empfehlen eine Förderung z.B. des Berufsbildes des Dokumentationsjournalisten nach anglo-amerikanischem Vorbild eines „fact-checkers“. „Die Medienunternehmen müssen ein hohes Eigeninteresse daran haben, dass ihre Nachrichten sauber recherchiert sind – auch wenn sie auf Online-Recherche beruhen“, sagte LfM-Direktor Norbert Schneider Ende Juni bei der Vorstellung der Studie. Und betonte zu Recht: „Schließlich geht es hier um ein hohes Gut der Medien: nämlich ihre Glaubwürdigkeit, die man in der Regel nur einmal verlieren kann.“

Linktipp: Marcel Machill, Markus Beiler, Martin Zenker: Journalistische Recherche im Internet. Bestandsaufnahme journalistischer Arbeitsweisen in Zeitungen, Hörfunk, Fernsehen und Online. Berlin: Vistas 2008, 406 Seiten. 23 Euro . Eine Zusammenfassung ist als PDF-Dokument abrufbar unter http://www.lfm-nrw.de/downloads/veranstaltungen/zus-jourrech.pdf

Annette Milz

Erschienen in Ausgabe 7/2008 in der Rubrik „Editorial“ auf Seite 3 bis 3. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.