Der Antiheld

Luis, um dem jungen Mann, der an der Sache schuld ist, einen Namen zu geben, heißt natürlich nicht Luis. So heißen ja schon alle anderen. Wie die meisten Kinder seines Alters kann Luis hervorragend krabbeln, fast schon stehen, und seit ein paar Tagen sagt er ständig „doch“, wobei ich noch nicht sicher bin, ob man ihm das als sein erstes Wort durchgehen lassen kann. Und natürlich ist er, wie die meisten Kinder seines Alters, viel offener, aufgeweckter, klüger und hübscher als alle anderen. Luis hat sechs Zähne, fünf Schnuller, einen viel zu teuren Kinderwagen, eine ältere Schwester, eine ehrgeizige Mutter und eine Babysitterin. Meistens, wenn ich die Geschichte mit der Babysitterin erzähle, kommt es zu interessanten Transformationen in der Mimik meiner Gesprächspartner, Gesichtsausdrücke, die wohl daher kommen, dass in ihren Köpfen ein paar Dinge ihre Größe ändern: Das Mitleid zum Beispiel wird kleiner, auch die Bewunderung, dafür wird der Neid größer. Irgendwo im Spannungsfeld zwischen Anerkennung und Unverständnis bewegen sich die Reaktionen auf meine derzeitige Beschäftigung, deren offizielle Bezeichnung erstaunlicherweise trotz ausführlicher Trendberichterstattung noch immer nicht allen geläufig ist, darum noch mal ganz amtlich: Ich bin weder in Vaterschaft noch in Babypause, ich mache auch keinen Erziehungsurlaub. Ich habe Elternzeit. Wenn das für manche wie eine Krankheit klingt, oder zumindest nicht ganz gesund, dann liegt das womöglich nicht nur an der Diktion dieses Satzes.

Entscheidungswege. Es ist schon bemerkenswert, was Fremde, Freunde, Eltern, Kollegen, so davon halten, dass man sich als Vater selbst um die Betreuung seines kleinen Kindes kümmert: „Ungewöhnlich“ finden es viele, „mutig“ ein paar, manche auch gesellschaftspolitisch irgendwie wichtig. „Selbstverständlich“ findet es niemand, und wenn man selbst davon spricht, man mache das eben, weil man glaubt, dass es sich so gehört, weil das Kind eben auch eine Mutter hat, die sich erstens, um es einmal furchtbar ökonomisch auszudrücken, schon ein uneinholbares Guthaben verschafft hat, was die partnerschaftliche Bilanz der Arbeit am Kinde betrifft, und die dummerweise zweitens, so schön sie eine eigene Familie findet, sich mit dieser nicht „hauptberuflich“ beschäftigen will – wenn man es also mehr als angemessen findet, dass man seinen Teil zur Betreuung und Erziehung des Kindes beiträgt, dann klingt das für viele ein wenig arrogant, weil es leicht daherkommt wie eine moralische Grundsatzentscheidung.

Es wäre ganz praktisch, wenn das bei mir auch so wäre, dann könnte ich viel heldenhafter die ganzen schnöden Bedenken beiseite räumen, die meine sogenannten Zeitgenossen neben all ihrem Lob auch nicht immer für sich behalten. Die Angst vor so etwas wie einem Karriereknick zum Beispiel, die sich erstaunlich schnell einstellt, auch wenn man bisher gar nicht großartig Karriere gemacht hat; die Erkenntnis der eigenen Entbehrlichkeit; oder die ewige Dankbarkeit, zu der ich nun gegenüber meinem kulanten Arbeitgeber verpflichtet bin. Das sind Dinge, die nicht so einfach von der Hand zu weisen sind, und deshalb habe ich auch versucht, sie Luis zu erklären: Dass ich meinen Job sehr gerne mache, habe ich ihm dargelegt, dass es mich beruflich nicht weiterbringt, meine Windelwechselfertigkeiten zu perfektionieren, und dass er doch wirklich nicht mehr ständig jemanden braucht, der auf ihn aufpasst. Aber Luis sagt leider immer nur „doch“.

Immerhin: Das Gefühl, ein weichherziger Softie zu sein, hält sich in Grenzen, was daran liegen mag, dass ich in einem Viertel wohne, in dem auch Männer ohne Kinderwagen kaum noch auf die Straße dürfen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die skeptischen Blicke, die mich treffen, wenn ich Luis durch den Park schiebe, aus meiner ungewohnten Rolle resultieren, ist eher gering. In der Regel prüfen sie nur, ob ich das richtige Kinderwagenmodell fahre. Leider hat sich damit auch der vermeintliche Vaterbonus erledigt, der angeblich Männern mit Baby beim Flirten im Supermarkt eine zusätzliche erotische Ausstrahlung verleihen soll, jedenfalls habe ich davon noch nicht viel gemerkt. Aber wer weiß, vielleicht wird der auch nur durch die unappetitlichen Speichelflecken wieder ausgelöscht, die sich mittlerweile unauswaschbar an fast all meinen Hemden befinden, und die ich gelernt habe, mit einem gewissen Stolz zu tragen, wie ein Familienwappen.

Zum Glück war die Aussicht auf derartige Sympathiepunkte höchstens ein marginales Motiv für meine Entscheidung, Elternzeit zu nehmen. Bewunderung für meine Rolle ist mir sowieso eher suspekt. Dass der eher banale Tagesablauf von Vätern in Elternzeit seit Anfang des Jahres einer gesteigerten medialen Aufmerksamkeit unterliegt, hat schließlich mit einem kleinen Unterschied zu tun, der bei mir rund 1425 Euro monatlich beträgt: die Differenz zwischen dem Höchstsatz des neuen „Elterngelds“ und dem vorher gültigen Erziehungsgeld von 375 Euro. Wie immer, wenn sozialpolitische Reformen von einer bürgerlichen Regierung eingeführt werden, ist auch das Elterngeld eher die überfällige Ratifizierung eines bestehenden gesellschaftlichen Konsenses als ein gewagtes hypermodernes Projekt. Umso absurder ist es, wenn man sich jetzt wundert, dass es tatsächlich Männer gibt, die davon Gebrauch machen. Unangenehm wird es nur dann, wenn man vom Nutznießer einer sozial sowieso nicht hundertprozentig gerechten Sache zum Helden der Generation von der Leyen gemacht wird. Allein, um das zu verhindern, empfiehlt sich die Anstellung eines Babysitters, weil es sich dabei natürlich ganz klar um unlauteren Wettbewerb handelt.

Wickelvolontäre. Noch gibt es weder Wortführer der „Väter in Elternzeit“ noch ein medientaugliches Akronym. Wer die Wickelvolontäre trotzdem als neue soziale Bewegung feiern will, sollte nicht vergessen, dass es erstaunlicherweise schon vor der Einführung des Elterngelds Väter gab, die sich für die Erziehung ihrer Kinder Zeit nahmen – zum Beispiel mich. Vor drei Jahren, als meine Tochter zur Welt kam, hieß die Lösung noch „freie Mitarbeit“, und dass es nicht der Staat war, der damals den Lebensunterhalt bezahlte, war ihr, wenn ich mich recht erinnere, relativ wurscht. Ich musste aber doch arbeiten, könnte man einwenden, nachts oder wenn die Mutter sich um das Kind kümmerte – aber schließlich tue ich das momentan auch. Das Dumme ist nämlich, dass ich nie genau weiß, wann ich gerade arbeite oder nicht, nicht nur, weil ich als Medienredakteur unter anderem fürs Fernsehen bezahlt werde, sondern weil ich immer davon ausgegangen bin, dass mein Berufsprofil nicht nur das Schreiben, sondern auch das Lesen, gelegentlich sogar das Denken umfasst. Und so sehr ich mich bemühe, auch das Denken in Elternzeit zu schicken, ganz hört es nie auf. Der Unterschied ist nur: Nach der neuen Regelung macht es kaum Sinn, Geld zu verdienen, weshalb ich all die Bücher, die ich lese, während Luis in seinem Luxuswagen schläft, und die grandiosen Arbeitsthesen, die mir dabei einfallen, gewissermaßen als Investition in die Zukunft betrachte. Ich glaube, das Jugendamt prüft nicht nach, ob sich meine Lektüre während der Elternzeit später produktiv niederschlägt, aber ganz sicher bin ich mir da natürlich nicht.

Damit hier keine Emanzen-Idylle aufkommt: Sobald Luis laufen kann, kommt er, um das brutalstmögliche Wort zu verwenden, schleunigst in die Tageseinrichtung. Ich werde mich dann freundlich bei meiner Schwangerschaftsvertretung bedanken, wieder in meinem ruhigen Einzelzimmer in der Redaktion sitzen und die Früchte meiner achtmonatigen Recherchen ernten. Natürlich nur, wenn ich mich ohne Babygeschrei im Hintergrund überhaupt noch konzentrieren kann.

Erschienen in Ausgabe 9/2008 in der Rubrik „Leben“ auf Seite 92 bis 93. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.