Recherchen über die Macht

Rex Smith ist Chefredakteur der „Times Union“ in Albany, der Tageszeitung in der Hauptstadt des Staates New York. Ende Juli erhielt er einen Anruf von Steve Engelberg, dem Chef vom Dienst von Pro Pub-lica, einem Büro für investigativen Journalismus in New York. Pro Publica recherchiere seit Wochen gemeinsam mit dem Public Radio WNYC in New York eine Geschichte über umweltschädliche Gifte bei Bohrungen nach Gas, sagte Engelberg. Betroffen seien Regionen im Staate New York und der Gouverneur werde dazu in der folgenden Woche ein Gesetz erlassen, das Schäden in Kauf nehme. Man könne belegen, daß die Kontrollbehörde unzureichend vorbereitet sei und die Gesetzgeber unzureichend informiert habe. Ob Smith die Geschichte drucken möchte? Er könne sie haben – umsonst, aber er müsse sie drucken, bevor der Gouverneur das Gesetz erlasse. Smith sagte zu. Er habe sofort verstanden, dass er ein solches Angebot nicht ausschlagen könne, erklärte er später seinen Lesern.

Die beiden Reporter Abrahm Lustgarten (Pro Publica) und Ilya Marritz (WNYC) hatten gemeinsam in Albany recherchiert. Die Idee kam von Lustgarten und anfangs habe er seine Rechercheergebnisse nur widerwillig geteilt, sagte er. Seine Redakteure mussten ihn daran erinnern, dass es ihnen nicht auf eine tolle Einzelleistung ankommt, die er exklusiv enthüllt, sondern auf die größtmögliche Wirkung. Deshalb stimmten sich beide Reporter eng ab, korrigierten ihre Texte gegenseitig und boten die Geschichte in der letzten Minute noch der „Times Union“ an. Schließlich wird die Tageszeitung von den Gesetzgebern gelesen. Die Zeitung brachte die Enthüllung auf Seite eins, mittags lief sie im Radio; am Abend veröffentlichte Pro Publica den gesamten Text auf der Website Pro Publica .org.

Pro Publica gilt als eines der ambitioniertesten journalistischen Projekte der USA: 28 Redakteure und Reporter, darunter sieben Pulitzerpreisträger, verfügen seit Januar über ein Budget von jährlich zehn Millionen Dollar, um damit über Macht und Fehlentwicklungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu recherchieren und die Ergebnisse kostenlos in namhaften Publikationen und Sendern zu veröffentlichen. Das Budget ist für drei Jahre gesichert. Die Redaktion von Pro Publica ist größer als entsprechende Zeitungsredaktionen. Die „New York Times“ beschäftigt „nur“ zwölf investigative Reporter und Redakteure.

Das Geld von Pro Publica kommt von dem kalifornischen Unternehmer Herbert M. Sandler und seiner Frau Marion, die am Verkauf ihres Unternehmens für Immobilienkredite 2,4 Milliarden Dollar verdienten. Die beiden sprachen vor zwei Jahren Paul E. Steiger an, den ehemaligen Chefredakteur des „Wall Street Journal“. Sie würden gerne investigativen Journalismus fördern. Ob er eine Idee habe? Steiger entwickelte Pro Publica, das sich als Dienst an der Allgemeinheit versteht. Bis Mai 2007 war er Chefredakteur des „Wall Street Journal“, insgesamt 16 Jahre lang. Unter ihm gewann die Zeitung 16 Pulitzerpreise. Als der Medienunternehmer Rupert Murdoch den Verlag kaufte, ging Steiger freiwillig, um seine Idee zu verwirklichen.

Mit dem „Center for investigative Reporting“ in San Francisco und dem „Center for Public Integrity“ in Washington gibt es seit Jahrzehnten ähnliche Büros. Neu ist die Höhe des Budgets, die Steiger zur Verfügung steht. Die Sandlers haben jährlich zehn Millionen Dollar auf mindestens drei Jahre zugesagt und entscheiden 2008 über weitere verbindliche Zusagen in gleicher Höhe; dazu kommen sechs- und fünfstellige Beträge der MacArthur Foundation und anderer Stiftungen. Das Budget erlaubt Pro Publica, erfahrene Reporter zu marktüblichen Löhnen einzustellen und mit etablierten Zeitungen zu konkurrieren. In den vier Monaten nach der Ankündigung des Projektes im Oktober 2007 bewarben sich 900 Journalisten, sagt Richard Tofel, der geschäftsführende Redakteur.

Als Chef vom Dienst gewann Steiger mit Steve Engelberg einen Journalisten, der 18 Jahre für die „New York Times“ gearbeitet hat, zuletzt bis 2002 als Leiter der investigativen Redaktion. Recherchen über Korruption in Mexiko (1997) und über Al Qaida (2001), die er leitete, wurden mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet. Steiger und Engelberg haben 17 Reporter eingestellt, darunter Jeff Gerth, der für die „New York Times“ fast 30 Jahre investigativ arbeitete und für seine Recherchen zwei Mal den Pulitzerpreis erhielt. Gerth sei „der vielleicht erfolgreichste investigative Reporter der New York Times“, urteilte 2001 das Fachblatt „Columbia Journalism Review“. Zur Redaktion gehören außerdem mehrere Redakteure, ein Blogger, der die Website Pro Publica.org aktualisiert, und eine Spezialistin für Recherchen mit Hilfe von Computern.

Im Juni lief im renommierten Fernseh-Magazin „60 Minutes“ auf CBS der erste Beitrag von Pro Publica. Thema war der arabischsprachige Fernsehsender Al Hurra. Die USA haben für den Sender seit 2004 rund 500 Millionen Dollar ausgegeben. Steuergelder, die nach Meinung von „60 Minutes“ verschwendet wurden. Der Anstoß zur Recherche ging von Pro Publica aus, das einen der vier Producer, die gemeinsam recherchierten, stellte. Auch diese Recherche veröffentlichte Pro Publica online und ergänzt sie laufend.

Pro Publica arbeitet an fünf weiteren Geschichten, sagt Tofel und führt durch die Redaktionsräume in der 23. Etage eines Bürohauses am Broadway in unmittelbarer Nähe zum ehemaligen World Trade Center in Downtown Manhattan. Pro Publica weckt Hoffnungen, dass es trotz der Zeitungskrise mit mehr als 7000 Entlassungen allein 2008 auch positive Entwicklungen gibt. Und Ängste, dass sich das Büro unabhängig nennt, aber nicht unabhängig von Interessen der Geldgeber sei. Die Sandlers, heißt es, seien ja vielleicht parteipolitisch motiviert, sie hätten den Demokraten bekanntlich viel Geld gespendet.

Bei Pro Publica reagiert man gelassen: Herr Sandler habe erst in der Ankündigung drei Tage vor Ausstrahlung erfahren, wovon der Beitrag handle und ihn nicht vorab gesehen. Paul Steiger sagte, das habe er mit Herbert Sandler so vereinbart. Er wolle unabhängig sein und fragte Sandler, was passiere, wenn sie über eine der linken Organisationen kritisch berichteten, die der Unternehmer unterstütze. Sandler habe gesagt, das sei für ihn „kein Problem“.

Craig Newmark, dessen kostenloses Anzeigenforum von vielen Zeitungen als Gefahr und Gegner und ein Grund für den Schwund von Kleinanzeigen gesehen wird, sieht in Pro Publica gar „die Zukunft des investigativen Journalismus“. Das ist vielleicht zu hoch gegriffen, auch ist fraglich, ob Pro Publica all das ersetzen kann, was der Zeitungskrise zum Opfer fällt.

Aber die Vorteile des Modells liegen für Paul Steiger auf der Hand. Der Chefredakteur betont, er verfüge nun über die gleiche redaktionelle Freiheit in seinen Entscheidungen, wie er sie beim „Wall Street Journal“ genossen habe. Der wesentliche Unterschied sei, dass er sich keine Sorgen um die Finanzierung seiner Recherchen machen müsse. Zumindest nicht, was die ersten drei Jahre angeht.

Linktipp:

http://www.hks. harvard.edu/presspol/research_publications/papers/working_ papers/2007_3.pdf

http:// www.cjr.org/ feature/the_nonprofit_road.php

http:// www.publicintegrity.org

http://centerforinvestigativereporting.org/tt

Erschienen in Ausgabe 9/2008 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 68 bis 69 Autor/en: Thomas Schuler. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.