Wir sind ein „Snack-TV“

Bild.de“ baut massiv das Angebot an Videos aus. Ist für Sie das Fernsehen Vorbild?

Kai Diekmann: Nein, dann würde man ja etwas erfinden, was es schon gibt. Nämlich Fernsehen. Es macht keinen Sinn, auf einer anderen technischen Plattform das Gleiche zu machen. Es geht vielmehr darum, Web-Videos als journalistisches Instrument zu nutzen.

Wir müssen heute Geschichten auf eine neue Art erzählen. Dabei trennen wir nicht mehr Bilder, Texte oder Videos. Im Gegenteil: die Darstellungsarten werden miteinander verschmolzen, so dass ein ganz neuer Gesamteindruck entsteht. Es ist ein großer Vorteil, dass unsere Redaktion schon immer Geschichten in Bildern erzählt hat – wir heißen ja schließlich „Bild“ und nicht „Text“. Jetzt haben wir eine eigene Abteilung für Web-TV – mit drei festangestellten und rund 15 freien Mitarbeitern. Diese Aktivitäten bauen wir weiter aus. „Bild“ wird also nach und nach zu Bewegt“Bild“.

Aber in der separaten Videosektion auf „Bild.de“ bieten Sie nur Filme an – getrennt von Texten und Fotos …

Der jetzige Videoplayer und seine Funktionen sind nicht das letzte Wort. Dort haben wir technisch einiges aufzuholen. Noch bis vor wenigen Wochen konnten Sie Videos nicht mal suchen – das ist jetzt möglich. Trotzdem sind unsere Abrufzahlen extrem hoch. Mit weit über 20 Millionen PIs im Video-Bereich pro Monat liegen wir sogar vor Fernsehsendern wie Sat 1. – und ganz weit vorne im Angebot der Nachrichten-Portale.

Wenn ich aber über die Zukunft, das neue Storytelling, rede, dann wird sich noch viel verändern. Schauen Sie sich Google an – da können sie nach Texten suchen, auch nach Bildern oder Videos – aber Sie bekommen es nicht zusammen angeboten. Und das muss unser Ziel sein: Ich rufe eine Geschichte auf, es läuft sofort ein Video – und ich habe dazu gleich den Text und im besten Fall auch noch eine Grafik. In verschiedenen Tiefen, in verschiedenen Ebenen, komplett miteinander verschmolzen. Und natürlich interaktiv.

Wer sich die Videos auf „Bild.de“ anschaut, findet da auch verwackelte Eigenproduktionen – von Ihren Printredakteuren gedreht. Wie wichtig ist die technische Qualität?

Es kommt entscheidend auf den Inhalt an, und erst an zweiter Stelle auf die technische Umsetzung. Aber die Technik wird immer besser und damit auch die technische Qualität der Videos.

Woher wissen Sie denn, dass die technische Qualität Ihre Nutzer nicht stört?

Es gibt auch in jeder Zeitung Qualitätsunterschiede – am Ende kommt es dem Leser aber vor allem auf den Informationsgehalt an. Online kann man das Interesse der Nutzer an der Zahl der Abrufe messen. Und wenn wir uns die zehn erfolgreichsten Videos abschauen, sind das fast alles Filme, die technisch keine außergewöhnliche Qualität hatten.

Wobei die Zahl der Abrufe noch nichts über die Zufriedenheit der Nutzer aussagt. Die Nutzer bemerken die Qualität eines Videos ja erst, nachdem sie es angeklickt haben …

Das mag sein, aber wir bieten vor allem authentische Informationen und nicht nur schöne Bilder. Genau das erwarten die Nutzer von „Bild“. Natürlich: Je besser ein Video produziert ist, desto zufriedener bin ich. Um die technische Qualität weiter zu verbessern, bilden wir unsere Journalisten auch intensiv weiter.

Aber noch mal, Fernsehqualität brauchen wir nicht. Das ist eine Erfahrung, die wir gleich am Anfang gemacht haben: Unsere moderierte Nachrichtensendung „Bild live“ war teuer und nur begrenzt erfolgreich. Warum? Weil das schon jemand erfunden hat. Das heißt Fernsehen, und wir wollen kein Fernsehen. Unsere erfolgreichsten Videos sind „user generated“ oder eben von unseren Reportern gemacht.

Sie bringen aber auch eine Art Sportsendung mit mehreren Themen am Stück – das ist ja schon ähnlich wie Fernsehen …

Wir bieten in der kommenden Saison erstmals Bundesliga-Berichterstattung mit Bewegtbild. Dafür haben wir eine exklusive Kooperation mit der Deutschen Telekom geschlossen. Das neue Format, das fünf Mal pro Woche läuft, ist aber nicht mit dem Fernsehen zu vergleichen. Es gibt keine Moderation und wir passen uns in der Länge und Gestaltung ganz dem Medium Internet an. Wir erzählen die Geschichten des Spieltages in zwei bis drei Minuten. Einige Fernsehformate brauchen dafür Stunden. Wir sind also mehr ein „Snack-TV“. Das ist entscheidend, denn bei der Rezeption sitzen die Nutzer in der Regel nicht irgendwo entspannt im Sessel, sondern vor dem Computer am Schreibtisch.

Wie haben denn die Redakteure darauf reagiert, dass sie künftig auch bewegte Bilder liefern sollen?

Die Redakteure sind begeistert. Es ist freiwillig, ich habe noch keinen Fall erlebt, wo jemand nicht mitmachen wollte. Im Moment haben wir sogar nicht genügend Kameras, um allen Wünschen gerecht zu werden.

Wie werden die Redakteure an der Kamera ausgebildet?

Jeder Redakteur ist verpflichtet, zwei Wochen am Stück in der Online-Redaktion zu verbringen. In diesem Zuge erhält jeder eine Kamera-Schulung. Jeder kann sich ausprobieren und so verstehen, wie viel Spaß es macht, multimedial zu arbeiten. Im Prinzip ist es wie früher: Als ich vor 25 Jahren beim „Westfalen-Blatt“ in Bielefeld gearbeitet habe, war es für mich selbstverständlich, zu jedem Termin die Kamera mitzunehmen. Heute gehe ich mit dem Kamerahandy oder der Flipcam los – so habe ich zum Beispiel unseren Umzug nach Berlin begleitet und eine Reise nach Afghanistan. Es macht einfach Spaß! Es ist ein tolles Medium, es ist ein schnelles Medium.

Bekommen die Redakteure die Videos extra bezahlt?

Nein. Unser Anspruch ist es, Inhalte zu liefern – und diese Inhalte müssen nutzbar sein für verschiedene Oberflächen – das ist „Bild“. Wir sind keine Papierhändler, sondern Contentlieferanten. Wenn die technischen Gegebenheiten sich ändern, dann müssen wir uns darauf einstellen.

Ihre Redakteure drehen mit dem Kamerahandy N95 von Nokia. Wie kommt das Video dann in die Redaktion?

Während der Redakteur mit dem N95 aufzeichnet, wird das Material auf unseren Server gesendet. Das geht automatisch über eine eigens entwickelte Software. Die Bewegtbildabteilung macht dann die Post-Produktion. Schnitt, Vertonung – in Absprache mit dem Redakteur. Das geht sehr schnell. Als zum Beispiel Thomas Doll seinen Ausraster in Dortmund hatte, war das Video eine Stunde später online.

Sollen Ihre Redakteure die Videos auch in Zukunft nur mit einem Handy drehen?

Wir testen im Moment ganz viele Möglichkeiten. Die „Flip“-Kamera ist für viele der nächste Quantensprung. Obwohl sie so einfach zu bedienen ist, ist sie in ihrer technischen Qualität schon ausgesprochen gut. Für einfaches Web-TV reicht das allemal. Trotzdem versuchen wir auch eine automatische Upload-Funktion für kleine handliche HD-Kameras zu entwickeln. Wir sind also für vieles offen. Und das müssen wir auch sein: Manchmal ist es besser, mit einem ganzen Kamera-Team anzurücken, manchmal reicht ein einzelner Video-Jockey, manchmal ergibt sich etwas ganz spontan und der Reporter greift zu der kleinen Kamera in der Jacken-Tasche. Verschiedene Situationen brauchen auch technisch unterschiedliche Lösungen

Sie bekommen viele Fotos von Ihren sogenannten Leserreportern, aber kaum Videos. Wie wollen Sie erreichen, dass das künftig mehr wird?

Es ist unser erklärtes Ziel, den gro-ßen Erfolg der 1414-Leserreporter-Fotos auch auf den Videobereich zu übertragen. Doch im Moment besteht noch die technische Hürde des Übertragungsprozesses. Fotos lassen sich ja mittlerweile von fast jedem Handy in guter Qualität verschicken, bei Videos ist das etwas schwieriger. Aber das wird sich in Kürze ändern.

Ideal wäre, wenn wir mit einem Hersteller zusammenarbeiten und dann eine Videokamera zu einem sehr geringen Endpreis anbieten würden. Wir könnten dann zum Beispiel unseren tausend besten Leserreportern eine Kamera schenken und damit eine regelrechte Bewegung in Gang setzen.

Wenn nun Leser mit Videoka
meras unterwegs sind, dann ist es problematisch, dass sie nicht über Persönlichkeitsrechte Bescheid wissen …

Wenn es nach der Anzahl rechtlicher Auseinandersetzungen gehen würde, dann müsste ich die Zusammenarbeit mit professionellen Fotografen sofort einstellen und nur noch Leser-Reporter beschäftigen. Denn die Streitfälle tendieren gegen null. Unser „1414“-Ressort prüft jedes Bild sehr gewissenhaft. Genauso verfahren wir auch mit Videos. Und dann wählen wir nach journalistischen Kriterien aus. Was diesen nicht standhält, das wird nicht veröffentlicht. Das ist auch der Unterschied zwischen uns und Angeboten wie „YouTube“, dort geht alles unkontrolliert online.

Bei Angeboten wie „YouTube“ können Videos selbstverständlich kommentiert und bewertet werden – auf „Bild.de“ nicht. Bleibt das so?

Wir arbeiten daran. Das ist aber für uns eine größere Herausforderung, denn die Kommentare müssen natürlich geprüft werden, bevor sie online gehen.

In der ARD gibt es ja Überlegungen Inhalte bei „YouTube“ bereitzustellen … Auf welche Plattformen wollen Sie gehen mit Ihren Inhalten?

Die Frage ist: Ergibt das für eine so große Marke wie „Bild“ wirklich Sinn? Wollen wir unsere erstklassigen Inhalte wirklich abgeben, ohne dafür im Gegenzug zumindest unsere Reichweite steigern zu können? Ein weiteres Problem: „YouTube“ ist eine reine Videoplattform. Da kann ich Geschichten schlicht nicht multimedial erzählen. Es fehlen Text, Fotos, Grafiken. Bei einigen Inhalten mag das noch funktionieren – aber bestimmt nicht immer. Sie sehen, wir überlegen sehr genau, welche Kooperationen sinnvoll sind.

Einige Verlage kooperieren ja mit Fernsehsendern im Web-Videobereich. Überlegen Sie das auch?

Nein. Wir wollen in erster Linie unsere Geschichten abbilden. Wir nutzen im Moment noch Agenturmaterial von Reuters und Co. – aber der Anteil an selbst produziertem Inhalt steigt dramatisch. Im Moment stellen wir 700 Videos im Monat online – ich gehe davon aus, dass es bis zum Jahresende etwa 1000 sein werden. Was noch ausbaufähig ist, ist unser Bewegtbild-Archiv. Dabei können wir auf das Material von „Bild TV“ zurückgreifen. Seit einigen Jahren produzieren wir in TV-Qualität Material zu unseren Geschichten, das wir dann den großen Sendern verkaufen.

Aber diese Filme nutzen Sie nicht für „Bild.de“?

Doch, selbstverständlich – manchmal aber erst in Zweitverwertung.

Warum haben Sie fürs Web-TV eine zweite Abteilung geschaffen, wenn Sie doch schon „Bild TV“ hatten?

„Bild TV“ produziert Fernsehqualität. Das kann die Online-Videoproduktion ergänzen, aber nicht ersetzen. Allerdings arbeiten wir intensiv daran, beides enger miteinander zu verbinden. Wenn wir nur in TV-Qualität produzieren würden, dann würde sich das nicht rechnen und wäre auch nicht sinnvoll.

A propos rechnen – wie läuft die Vermarktung der Videos?

Ich bin mir sicher, dass das ein Vermarktungsmarkt der Zukunft ist. Wir sind noch am Anfang. Aber die ersten Ergebnisse sind sehr vielversprechend.

Wenn man im Moment unterschiedliche Videos anklickt, wird davor immer wieder der gleichen Werbespot angezeigt – ist das Absicht?

Wie gesagt, das ist ein Entwicklungsbereich und genau wie alle anderen Wettbewerber lernen auch wir noch, was bei den Usern funktioniert. Eine kleine Werbebotschaft vor dem Video ist mittlerweile „gelernt“. Der Unterschied zu anderen einfachen Werbeplattformen ist jedoch, dass wir unser Material vermarkten können – denn wir haben die Rechte für das, was wir zeigen.

Was planen Sie für die Zukunft im Bewegtbildbereich?

Wie schon erwähnt, zeigen wir in Kooperation mit der Telekom seit dem Start der Fußball-Saison echtes Bewegtbild von der Bundesliga. Wir können die Spieltage online erzählen. Und das Schöne ist: Als Printmedium kannibalisieren wir uns in diesem Bereich nicht selbst.

Im „user generated“-Bereich wollen wir noch viel mehr Aktionen starten. Zum Beispiel „user generated advertising“. Eine ganz neue Form der Unterhaltung und Information! Natürlich könnte ich mir auch Franz-Josef Wagner im Video vorstellen … Das würde ganz sicher Kult werden: Wie er abends in der Paris Bar sitzt und seinen Brief vorliest. Sie sehen, es gibt viele Ideen. Lassen Sie sich überraschen, was wir realisieren werden.

Was ist „user generated advertising“?

Wenn zum Beispiel Bild und Ikea aufrufen: Wer kreiert den neuen Werbespot für das Möbelhaus? Was meinen Sie, was passiert? Das wäre der größte Pitch aller Zeiten. Da hätte sogar die Agentur eine Chance, die irgendwo abseits der Werbemetropolen sitzt. Und natürlich jeder Leser. Und so nebenbei bringen Sie die Menschen dazu, sich mit werblichen Inhalten zu beschäftigen.

Was planen Sie noch?

Wir haben jeden Tag eine Blattkritik, oft mit einem Gast. Bei dieser Blattkritik wird sehr offen über die Ausgabe des jeweiligen Tages gesprochen. Wir überlegen, Auszüge daraus künftig als Video online zu stellen. Das wäre ein spannendes Experiment!

Erschienen in Ausgabe 9/2008 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 32 bis 67 Autor/en: Interview: Matthias Morr. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.