Diagnose

Der Journalismus muss wehtun – vor allem den Journalisten!

Man muss es hier mal hinschreiben: Deutschlands Journalisten sind noch viel zu ängstlich. Nicht wahrhaftig genug, zu zaghaft. Sie arbeiten zu gern an den Schreibtischen, schonen ihre Körper, gehen keine Risiken ein. In ihre Lebensläufe schreiben sie gern rein, dass sie früher Totengräber oder Flugzeugbelader waren, das echte Leben also in vollen Zügen inhaliert haben, aber mit dem Einritt in die Journalistenschule erlahmt diese Verve dann. Plötzlich fehlt ihnen der Wille, richtig etwas zu erleben und nicht nur darüber zu schreiben, was andere so erleben. Statt sich Gefahren auszusetzen, ziehen sie mit Diktiergerät und Schreibblock bewaffnet durch die Gegend.

Die Briten sind da härter. Dort hat man auch sonst einen gesunden Hang zum Masochismus und läuft bei null Grad mit T-Shirt und Minirock herum. Dieses Volk brachte auch jenen Sportjournalisten hervor, der während der Olympiade in Peking darüber schrieb, wie es ist, wenn man morgens fünf Sandwiches isst, drei Pancakes, mittags fünf Teller Spaghetti und drei Schalen Haferbrei oder so ähnlich; wenn man also das isst, was Michael Phelps vorgab zu essen. Der sich gruselnde Leser erfuhr auf eindringliche Art, dass Phelps entweder ein Lügner ist oder gar kein echter Mensch. Das wusste man zwar auch vorher schon, aber dennoch war es ein unterhaltsames Stück Sportjournalismus im Wust der moralinsauren Artikel übers Doping.

Es geht auch ernster. Wie etwa Christopher Hitchens aus den USA, der im Dienste von „Vanity Fair" die Foltermethode des Waterboardings an sich selbst ausprobieren ließ. Dafür wird der Kopf mit einem Handtuch abgedichtet, auf das Wasser geschüttet wird. Das Video von dieser Tortur kann man sich auf YouTube anschauen (http://de.youtube.com/watch?v=4LPubUCJv58), den Bericht bei „Vanity Fair" ( www.vanityfair.com/politics/features/2008/08/hitchens200808) lesen – und wer beim Lesen und Anschauen keine Gänsehaut bekommt, der ist wahrscheinlich eh seit Langem bei Blackwater beschäftigt. In der amerikanischen Regierung gilt Waterboarding als vertretbare Maßnahme im Kampf gegen den Terror, Hitchens aufopferungsvolle Arbeit beweist eindrucksvoll das Gegenteil. Gut möglich, dass sie aus einigen Republikanerwählern Kriegsgegner gemacht hat – dann hätte sich der Schmerz gelohnt.

Jeder gute Buchautor weiß, wovon er schreibt – oft ist vieles autobiografisch, und wenn nicht, bemüht er sich, im Zuge der Recherche vieles selbst zu erleben. Wie es auch Schauspieler tun, die wir für ihr method-acting bewundern, wenn sie z. B. für einen Film 50 Kilo zulegen oder abmagern, um glaubwürdig andere Menschen zu spielen. Davon könnten wir uns was abschauen. Als vor Jahren eine „SZ"-Reporterin für ein paar Tage ins Altersheim zog, war das 100 Mal aufschlussreicher als die meisten Ferndiagnosen über den Pflegenotstand.

Vier Monate brauchte der kanadische Journalist Craig Davidson, um aus seinem amorphen Körper einen muskulösen, durchtrainierten Body zu formen – mit Hilfe etlicher Spritzen voller Hormone, die er sich in den Hintern jagte. Dazu aß er jeden Tag zwanzig Dosen Thunfisch und reichlich Pillen, bis seine Hoden schrumpften und er zwischendurch Frauenbrüste bekam. Das Stück über diese Metamorphose ist besser als Kafkas „Verwandlung" und macht einem den Wahnsinn in den Fitnessstudios auf einen Schlag klar. Der Text wurde übrigens im „SZ-Magazin" abgedruckt. Aber was machen dort die eigenen Reporter? Sie leben mal ein paar Tage bei Kerzenschein und ohne Auto, um in Zeiten der Energieknappheit darüber zu schreiben – na ja, immerhin ein Anfang. Es gibt ja auch den mutigen Kollegen, der für ein Buch und einen „Zeit"-Artikel in die SPD eintrat. Und in „Neon" schrieb neulich jemand darüber, wie es ist, mit einem Hitlerbärtchen herumzulaufen. Das ist zwar gesellschaftlich nicht besonders relevant, aber ein Schritt in die richtige Richtung. Und gelesen wird es auf jeden Fall. Aber es muss härter werden. Es kann nicht sein, dass Günter Wallraff mittlerweile dafür gefeiert wird, unerkannt in einem Callcenter zu arbeiten. Was kommt als Nächstes? Anonym durch die Waschanlage? Unterm Tisch in der Redaktionskonferenz von „Zeit-Leben"? Leute! Geht doch mal dahin, wo es wirklich wehtut.

Ich bin auch dafür, dass man all die Parlamentsjournalisten, all die klugen Leitartikler, die immer genau wissen, wie man Politik macht, also all die Kisters und Heftis und Schmids, dass die einfach mal selbst diesen hirnerweichenden Politikeralltag durchleben – mit einschläfernden Sitzungen, hunderten Anrufen, ekelhaften Kekstellern, unverschämten Schlagzeilen und aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten. Und erst dann dürfen sie weiterschreiben. Der Rest geht in der Zwischenzeit zur Weinernte, zum Spargelstechen oder ins Obdachlosenheim.

Erschienen in Ausgabe 10/2008 in der Rubrik „Rubriken“ auf Seite 12 bis 13. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.