Ran an den Markt!

Willkommen in Europa, Mr. Wilkinson! Was fällt Ihnen am hiesigen Zeitungsmarkt auf?

Earl J. Wilkinson: Das ist von Markt zu Markt unterschiedlich, einen europäischen Zeitungsmarkt gibt es nicht.

Dann fangen wir doch mal mit Deutschland an.

In Deutschland sehe ich Qualität, eine sehr systematische Herangehensweise an Themen. Wenn ich mir Großbritannien anschaue, sehe ich Konsolidierung, die Suche nach mehr Effizienz, ähnlich wie in den USA. Schaue ich in die Benelux-Staaten, sehe ich ziemlich interessante Experimente mit neuen Formaten in Print, Internet oder mit mobilen Medien. Und vor der Finanzkrise habe ich in Spanien die Verjüngung der konservativen Verlagsszene durch Gratiszeitungen gesehen. Jedes Land hat eine andere Story.

Im Augenblick scheint die Story in allen Ländern eher eine Tragödie zu sein.

Ach, Sie kennen doch dieses Lied: „Don´t worry, be happy“. Ich sage: Seid froh, aber sorgt euch auch ein bisschen. Der digitale Sturm kommt. 1997 war ich auf einer Konferenz in New York, wo ein Teilnehmer meinte, Rubrikenanzeigen seien doch viel besser im Internet aufgehoben als in gedruckten Medien. Der Mann wurde ausgebuht. Als der Tipping Point für die Verbreitung von Internet-Breitband in den USA erreicht war, etwa 2002, waren die amerikanischen Verleger auf den Zusammenbruch der Rubrikenmärkte nicht vorbereitet, weder kulturell noch strukturell. Nehmen Sie dagegen Singapur, wo Singapore Press Holdings vor sieben Jahren den Entschluss fasste, einen Teil der Anzeigenumsätze direkt in den Aufbau einer digitalen Infrastruktur zu stecken. Heute sind die einer der großen Player im Markt. Die Frage ist also: Welche Art von Brücke werden deutsche Verleger auf dem Weg in die Zukunft bauen? Etwa Mitte des nächsten Jahrzehnts wird klar sein, welche Rolle Produzenten von Inhalten in der digitalen Zukunft spielen werden. Ich fürchte, viele Verleger sind kulturell nicht darauf vorbereitet, schnell zu handeln.

Ihr Mantra ist Marketing, Marketing, Marketing.

Ja. Weltweit geben Verlage etwa 1,5 Prozent ihrer Umsätze aus, um für sich zu werben. Es sollten mindestens 5 Prozent sein. Doch selbst Zeitungen, die keine gedruckte Konkurrenz in ihrem Markt haben, ändern nun langsam ihr Verhalten. Denn es gibt neue Wettbewerber. Marketing hat in unserer Branche manchmal einen schlechten Ruf, dabei ist es doch einfach: Wir sagen Lesern und Anzeigenkunden, was wir machen werden, dann machen wir es und dann sagen wir ihnen, was wir gemacht haben. Die Tage, in denen unsere Kunden von alleine zu uns kamen, sind vorbei. Gerade jungen Lesern müssen wir erzählen, warum sie Zeitungen überhaupt in die Hand nehmen sollten.

Wird die Inszenierung der Marke wichtiger als die Inhalte selber?

Zeitungen haben drei Hebel, über die sie ihren Wert steigern können. Erstens den Inhalte-Hebel. Zweitens den Marken-Hebel. Und drittens den Publikums-Hebel. Das Management des Publikums, der Leserschaft, ist meiner Meinung nach der wichtigste Hebel, den Zeitungen haben. Wir lieben unsere Inhalte, klar. Aber egal, wohin wir schauen, zur Musikindustrie, den Buch- oder Zeitschriftenverlagen, sehen wir einen Wandel von einer produktorientierten zu einer publikumsorientierten Welt. Dies ist die einzige Art, auf die man heute ein Multime- diaunternehmen führen kann. Vor zehn Jahren ist beispielsweise ein Sänger auf Tournee gegangen, um sein Album zu promoten, der Hauptumsatz stammte aus den CD-Verkäufen. Das neue Album von Justin Timberlake erschien im vergangenen Jahr auf insgesamt 115 verschiedenen Vertriebsplattformen. CD-Verkäufe erlösten etwa 20 Prozent der Gesamtumsätze. Wer zu sehr in sein Produkt verliebt ist und nicht an sein Publikum denkt, ist in fünf Jahren pleite.

Was muss sich also ändern?

Die Verlagskultur. Heute kümmern wir uns viel um den Aufbau der Zeitung und solche Dinge. Wir sollten mehr Energie darauf verwenden, unser Publikum zu verstehen. Verlage beliefern Haushalte bis an die Tür, wissen aber oft nicht, ob der Empfänger ein Mann oder eine Frau ist. Wir brauchen Echtzeitinformationen über die Interessen der Menschen. Aktuell beschäftigt die wirtschaftliche Entwicklung die meisten Leute, was wiederum ihren Konsum beeinflusst, die Wahl eines Restaurants, den Kauf von Lebensmitteln und so weiter. Wir müssen näher am Markt sein. Es gilt „Audience first“.

Was bedeutet das für das Produkt Zeitung?

Das Konzept von einem Produkt für einen homogenen Markt ist tot. Es stirbt nicht, es ist bereits tot. Der Verleger der „Dallas Morning News“ sagte mir im vergangenen Jahr: Früher sah ich einen Massenmarkt, heute sehe ich Hunderte von Nischen. Wir müssen nun sehen, wie wir unser Geschäft reorganisieren.

Und was geschieht mit den Inhalten?

Sie werden billiger. Es gibt über 11.000 Tageszeitungen und mehr journalistische Inhalte als jemals zuvor. Die gesamte produzierte Information, also User Generated Content, eMails, SMS und so weiter wächst aber hundert Mal schneller und vermindert den Wert der journalistischen Inhalte. Früher verfügten Verlage, TV- und Radiosender nicht nur über die Inhalte, sondern stellten die Zugangswege zur Information. Heute gehören Google und Co. die großen Daten-Autobahnen. Die Verhandlungen mit diesen neuen Playern werden uns sicher die nächsten fünf Jahre beschäftigen.

Fürchten Sie Google?

Nun, die Marktkapitalisierung von Google übersteigt den gesamten Wert aller amerikanischen Zeitungen. Das beängstigt mich. Aber Google ist ein seltsamer Fall, ist manchmal Freund, manchmal Gegner der Tageszeitungen. Die Suchmaschine ist so effizient, dass sie das Geschäftsmodell der Zeitung verändert. Darum sollten wir aber nicht davor zurückschrecken, mit Google in eine Diskussion zu treten. Denn Google kann Zeitungen effizienter machen, indem es beispielsweise über das „Long Tail“-Prinzip entsprechende Werbung zu längst publizierten Zeitungsinhalten verkauft. In den USA erledigt Google das bereits im Auftrag von Verlagen. Google vergrößert die Reichweite von Zeitungen, und das steigert ihren Wert.

Wird das digitale das gedruckte Anzeigengeschäft ersetzen?

Darüber denke ich nicht nach. Was ich wissen möchte, ist: Können wir Anzeigenkunden ein relevantes Umfeld bieten, dass die Tausenderkontaktpreise steigen und das Loch schließen, das der Rückgang der Printanzeigenumsätze aufgerissen hat?

In den USA herrscht in der Zeitungsbranche nicht nur wegen der Finanzmarktkrise Panik. Was bedeutet das zum Beispiel für Europa?

Diese Frage wird mir überall gestellt: Ist das nur die Spitze des Eisbergs oder ein singuläres Phänomen? Ich würde sagen: 50 zu 50. In den USA haben Verlage einen Riesenhaufen Schulden gemacht, um andere Verlage aufkaufen zu können, just zu dem Zeitpunkt, als der Anzeigenmarkt zusammenbrach. Das wiederholt sich so auf anderen Märkten nicht. Was sich vielleicht schon vollziehen wird, ist die Entwicklung von Printhäusern zu Technologieunternehmen mit Print-Ablegern. Noch einmal: es geht nicht um das Produkt, sondern um das Publikum. Verlage werden schlanker und flinker. Die gute Nachricht ist: Sie verändern sich. Die schlechte ist: Es brauchte eine Pistole am Kopf, um sie dazu zu bewegen.

Schlanker bedeutet meistens auch Abbau von Personal.

Personalabbau ist immer schmerzhaft. Aber es geht nicht nur um Abbau, es geht auch um eine Neuausrichtung. Wir müssen sowohl mit dem Ego-Journalismus wie mit der Ego-Auflage Schluss machen. Wozu brauchen wir Korrespondenten in Simbabwe, wenn wir noch nicht einmal ordentlich aus dem Stadtrat berichten können? Und warum muss eine Regionalzeitung wie etwa die „Dallas Morning News“ überall in Texas erhältlich sein, wenn das doch nur Geld kostet? Heute ist die Zeitung nur noch in einem Radius von 25 Meilen um Dallas erhältlich. Ist das nun eine Tragödie oder einfach kluges Business? Wenn Ihnen als Verleger das lokale Geschäft nicht gehört, dann sind sie bald raus aus dem Spiel.

Wenn Sie mit diesen Botschaften bei den V
erlegern auftauchen, werden Sie dafür geliebt oder gehasst?

Geliebt, hoffe ich doch. Zeitungen haben so viele Vorzüge. Ich sage: Es wird Veränderung geben, es wird weh tun, aber es ist in Ordnung. Man nennt es „digital frontier“, die digitale Grenze. Wir wurden an dieser Grenze so um 1995, 1996 geboren, sind jetzt zwölf Jahre alt und benehmen uns auch so. Wie im echten Leben.

Linktipp:

Die International Newsmedia Marketing Association im Netz: www.inma.org

Erschienen in Ausgabe 11/2008 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 30 bis 30 Autor/en: Interview: Christian Meier. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.