„Der Leser ist brutal!"

?Noch nie haben sich Zeitungsmacher so viele Gedanken über ihr Produkt gemacht – und trotzdem verlieren sie Leser. Was läuft da falsch?

Carlo Imboden: Nach wie vor gehen viele Zeitungen vom falschen Servicegedanken aus. Ich sage es Ihnen am Beispiel des Einzelhandels: Dort hat man gelernt, die Regale optimal zu bewirtschaften und die Käufer so durch alle Regale durchzuführen, dass diese, selbst wenn sie am Anfang mit einem kleinen Zettel reingegangen sind, mit einem vollen Wagen rauskommen. Dieses Prinzip, dass man die Leser an allen Regalen vorbeiführen muss und die Eyecatcher auf Augenhöhe sein müssen, das berücksichtigen viele Zeitungsmacher nicht. Die Architektur der Zeitung ist ganz entscheidend – die Anzahl der Bücher, die Seitenfolge innerhalb eines Buches.

Die ideale Zeitung – ist das nicht ein frommer Wunschtraum?

Wahrscheinlich wird es die ideale Zeitung nie geben. Aber es gibt viele Fehler, die man verhindern muss. Der erste Fehler sind geschlechtsspezifische Bücher. Es ist ein verdammter Unsinn, den Sport mit Finanzen zu kombinieren, weil damit viele Frauen außen vor gehalten werden. Die gehen diese „Regalstrecke" nicht durch. Dieser alte Servicegedanke, dass man die Zeitung am Frühstückstisch aufteilen soll zwischen Männern und Frauen, ist heute der größte Unsinn. Gerade das muss ich verhindern. Wir verfolgen mit ReaderScan, wie Leser durch eine Zeitung gehen, und stellen dabei fest, dass viele ganze Bücher weglegen. Das heißt, sie haben in dem Laden einen Exit gefunden und kommen zur Kasse, bevor sie alles andere gesehen haben. Jetzt gibt es einen wesentlichen Unterschied. Im Laden nervt es mich, wenn ich am Schluss den Wagen vollgestopft habe. Als Leser lasse mich in der Zeitung gerne verführen.

Welche Bedeutung hat die Buchstruktur einer Zeitung?

Eine enorme. Am schlimmsten ist für gewöhnlich ein Lokalbuch. Das beginnt vorne mit den interessantesten Geschichten und hört hinten auf mit den Pflichtstoffen: Vereinsmeldungen, Ehrungen, Preisverleihungen. Die Relevanz fällt von vorne nach hinten ab. Innerhalb des Buches braucht es aber einen Spannungsbogen. Wenn vorne die besten Geschichten aus der Stadt stehen, braucht es als starke Klammer hinten meinetwegen die besten Geschichten aus dem Land. Dieser Spannungsbogen funktioniert hervorragend bei einem Gewohnheitsprodukt wie einer Tageszeitung. Wir wissen, dass die erste und die letzte Seite eine enorme Aufmerksamkeit hat. Bei einer Vier-Buch-Struktur habe ich bereits acht Schaufensterseiten, mit denen ich spielen kann.

Wenn da nicht die Anzeigen wären. Zunehmend wird die Seite eins für Anzeigen verwendet. Was halten Sie davon?

Die Seite eins ist eine Schaufensterseite. Wer diese Seite zu einer Konsumseite verkommen läßt, verliert etwas ganz Wesentliches: dass mich in die erste Seite ins Buch hineinzieht, so, wie die letzte Seite das Buch zusammenhält. Wenn nun schon die letzte Seite nicht für die Redaktion zur Verfügung steht, kann sie nicht auch noch die erste Seite hergeben. Wenn schon auf der Einser eine Anzeige, dann bitte ganz unten als Streifen, aber nicht mehr!

Die Zeitungen werden ja zunehmend moderner. Aber auch lesefreundlicher?

Ich habe nicht den Eindruck. Ich sehe täglich Hunderte Fehler. Ein Beispiel: Viele Tageszeitungen arbeiten auf der Titelseite mit Anrissen. Die Geschichten werden innen drinnen irgendwo weitergeführt. Sie würden sich wundern, wie viele Leser dabei verloren gehen. Ein Fehler, den Journalisten besonders oft machen: Sie verwenden auf der Einser einen Satz, den sie dann in der Geschichte innen wiederholen, oft auch nur sinngemäß. Spätestens bei dieser Wiederholung springen 30 Prozent der Leser ab, weil sie das Gefühl haben, da kommt ja nichts mehr. Wenn man die Leser fragt, können sie nicht sagen, warum sie ausgestiegen sind. Aber sie haben anscheinend eine verdammt gutes Redundanzgefühl. Sie springen exakt dort ab, wo die Wiederholung steht.

Der Leser verzeiht also nichts, ist brutal.

Der Leser ist extrem brutal – bei der Tageszeitung. Bei der Wochenzeitung ist er viel gnädiger und beim Magazin ist er extrem gnädig. Seine Segelzeitschrift oder sein Bergmagazin genießt er ganz anders. Da lässt er sich viel gefallen. Nicht aber von der Tageszeitung. Ein großer Schwachsinn sind zum Beispiel Themenanrisse am Kopf der Zeitung mit Angabe der Seitenzahlen, wo die Geschichten zu finden sind. Ist es sinnvoll, den Leser von der Titelseite weg gleich auf die Seite 18 zu führen? Da schießen Journalisten Eigentore! Gewaltige Eigentore! Für gewöhnlich nehmen die Leser diese Anrisse gar nicht wahr. Ich sage, alles, was keine klare Funktion hat, muss raus.

Sie erforschen gerade erstmals, wie jemand die Tageszeitung nutzt, nachdem er bereits die Nachrichten im Internet gelesen hat. Müssen wir uns auf das Ende der Tageszeitung einstellen?

Nein! Das Überraschende: Es ist kein Substitutionswettbewerb, der da stattfindet. Genau das Gegenteil ist der Fall! Je mehr jemand Nachrichten online konsumiert, desto mehr nutzt diese Person auch Nachrichten in der Zeitung.

Sie reden von den Nachrichtenjunkies, jenen, die sowieso alles lesen?

Nicht unbedingt. Die Chefredakteure sagen mir oft, es sind nur zehn Prozent, die Online und Tageszeitung gemeinsam nützen. Meist sind es deutlich mehr, 15 Prozent, bei manchen Tageszeitungen gar 20 Prozent. Und von den jungen Neuabonnenten holen 60 Prozent parallel Nachrichten aus dem Netz. Es ist eine sehr schnell wachsende Gruppe – die noch viel schneller wachsen wird, sobald Nachrichten über das Handy abgeholt werden können. Ich bin fest davon überzeugt, dass es für die Zeitungsmacher überlebenswichtig sein wir, exakt zu wissen, was ihre Leser im Netz machen und wie darauf die Tageszeitung abzustimmen ist.

Und was haben Sie bei dieser Untersuchung festgestellt?

Die Beeinflussung von Print und Online ist sehr unterschiedlich. Bei unserem ersten Untersuchungsprojekt stellen wir fest, dass im politischen Bereich diejenigen Nutzer, die am Vorabend online Informationen holen, am nächsten Tag ein verstärktes Bedürfnis zu vertiefendem Hintergrund haben. Sie konsumieren zwar nicht mehr die Nachrichtenspalte, aber sie suchen Kommentare, Hintergründe, Analysen.

In unserer ersten Untersuchung haben wir beispielsweise im Sport festgestellt: Gefragt sind die Geschichten, Hintergründe, Erklärung – allerdings nicht im praktischen Sinn: Warum hat Hitzfeld so oder so spielen lassen. Nein! Die Leser interessiert, wie hat sich Hitzfeld meinetwegen mit seiner Frau besprochen. Oder zum Beispiel Red Bull: Die haben für ihre Gastmannschaften einen Raum, der ist extrem spartanisch eingerichtet, während die Heimmannschaft in Plüschsessel sitzt. Derartige Geschichten interessieren den Leser. Das hat er nicht gesehen und das kann er online nicht abholen. Die Tabelle mit Spielergebnissen oder auch die klassische Berichterstattung wie das Nacherzählen des Spiels ist überflüssig.

Ich bin mir jetzt schon sicher: Die Nachrichtenspalte als Zeichen des Vollständigkeitsanspruchs einer Zeitung wird nicht überleben.

Für wen machen Sie diese Untersuchung?

Ich bitte um Verständnis, dass ich keine Details nennen kann, auch nicht über den Auftraggeber. Ich kann Ihnen aber so viel über das Projekt sagen: Online und Print sind zwei unterschiedliche Redaktionen, die nach unterschiedlichen Kriterien geführt werden. Der eine maximiert Page Impressions, der andere hat die verkaufte Auflage zu halten. Die Absicht ist, die Tageszeitung zu stärken, und soweit ich das abschätzen kann, wird das auch funktionieren.

Online als die Chance für die Zeitung?

Ja! Wir sehen in unseren ersten Untersuchungen ganz deutlich, dass Leute, die intensiv Nachrichten im Internet nutzen, ebenso intensiv Nachrichten in der Zeitung suchen. Die Frage ist, wie man das inhaltlich aufeinander abstimmt. Da haben wir in der Tendenz dasselbe Nutzungsmuster wie zwischen Fernsehen und Tageszeitung. Wenn das Fernsehen am Vorabend die Nachrichten gemelde
t hat, genügt es nicht, diese am nächsten Tag zu wiederholen. Der Leser will nun Hintergrund, Erklärung, Kommentare haben.

Also die Warum-Zeitung. Wie groß ist aber die Gefahr, dass Online auch diese Warum-Funktion übernimmt und so die Tageszeitung überflüssig wird?

Ich bin überzeugt, dass die Zeitung den Verdrängungswettbewerb nur dann verliert, wenn sie nichts anderes macht, als Online oder Fernsehen zu wiederholen. Das „in die Tiefe gehen" ist einfach in der Zeitung mediengerechter. Bei einem Angebot von 300 Artikeln bewege ich mich in der Zeitung immer schneller als im Internet.

Wird die Tageszeitung zum Beiwagen des Internet oder umgekehrt?

Welches Medium hat den Führungsanspruch? Jenes, das tiefer ist, jenes, das schneller ist? Aus Sicht des Medienhauses ist diese Frage eigentlich obsolet – ebenso wie die Anspruch, mit Print in einen Schnelligkeitswettbewerb zu gehen. Ich erinnere mich noch, als die „Neue Zürcher Zeitung" drei Mal am Tag erschienen ist – morgens, mittags und abends. Dieser Wettbewerb war schon damals schwierig und wäre heute tödlich. Das Hauptproblem ist, und das ist eine Führungsaufgabe, diese verschiedenen Channels synergetisch so zu führen, dass der jeweilige Titel als Content-Provider gegen andere bestehen kann. Das Rennen wird derjenige machen, der es versteht, seinen Kunden beides in Ergänzung anzubieten.

Versucht das nicht sowieso jeder?

Nicht unbedingt. Wenn Sie heute eine Tageszeitung anschauen, stellen Sie fest, dass bestenfalls 50 Prozent der Inhalte massentauglicher Stoff ist: Gesellschaft, Wirtschaft, Politik. Also Themen, die uns alle angehen. Dann kommen all die zielgruppenspezifischen Angebote, von irgendwelchen Sportmeldungen über Feuilleton bis zur Informatikseite. Die Zeitungsmacher versuchen so immer kleinere Zielgruppen an das Medium zu binden. Aber sollte man nicht lieber alle segmentspezifischen Angebote ins Internet auslagern? Die entscheidende Frage ist, wo akzeptiert der Leser die Ausgliederung ins Internet.

Wofür plädieren Sie: alle Nischen-Inforationen ab ins Internet? Und stattdessen mehr „Massencontent" ?

Genau, das wäre die Idee, wenn wir feststellen, dass der Internet-Nachrichtennutzer verstärkt in der Zeitung Hintergründe sucht und nicht einfach die Wiederholung der Nachricht. Die Zeitung wird dabei als einer von mehreren Nachrichtenkanälen begriffen, der sich auf die massentauglichen Stoffe konzentriert.

Wie aber soll sich die Zeitung finanzieren, wenn alle Sparteninfos aus der gedruckten Zeitung fallen?

Schauen wir uns doch zum Beispiel den Sport an. Soll ich Beach-Volleyball im Massenmedium Zeitung an einige Hunderttausend Haushalte verteilen, wenn sich nur 500 dafür interessieren? Und so wie Beach-Volleyball gibt es zahlreiche andere Sportarten, von denen mir jeder Redakteur sagt, ich muss diese bedienen, sonst habe ich ein Problem. Wie kommen wir aus diesem Problem heraus? Unsere Rezeptur ist, dass man crossmedial denkt und jene Spartenangebote, die kleinste Segmente betreffen, ins Internet stellt, dass man den Zugriff dazu allerdings an eine Berechtigung mit dem Abonnement knüpft.

Sollen also Nachrichten im Internet nicht mehr kostenlos sein?

Mir würde reichen, wenn es über das Abo mitbezahlt wird. Wenn der Leser multichannelartig Nachrichten aufnimmt, ist das eine große Chance für die Zeitungen. Aber sie müssen das dann auch spielen. Es kann nicht sein, dass jeder gratis die Tiefe des Angebotes holen kann. Das ist dann demjenigen vorbehalten, der die Zeitung kauft.Medienunternehmen werden im Internet nie das verdienen können, was sie bei Print erwirtschaften. Also müssen sie um die Zeitung Sorge tragen. Wenn allerdings Leser heute von 48 Seiten Umfang nur mehr drei Seiten regelmäßig nutzen, werden sie irgendwann das Abo kündigen. Um das zu verhindern, muss die Zeitung um jene Themen entschlackt werden, die nicht massentauglich sind. Es macht ja keinen Sinn, jeden Tag für ein paar wenige über Beach-Volleyball zu berichten und dazu teures Papier zu verdrucken. Solche Minderheitenprogramme sind im Internet viel besser aufgehoben. Dazu muss ich allerdings dem Online-Chef sagen, es geht nicht um Page Impressions. Ich plädiere für eine Verwesentlichung der Tageszeitung. Sie soll all das, was in der Gesellschaft, Politik, Wirtschaft passiert, vertiefen, kommentieren, analysieren. Kein anderes Medium nimmt das wahr. Online nicht, Fernsehen nicht und auch nicht die Gratiszeitung. Diese Diskussion hat übrigens auch einen politischen Aspekt. Die Demokratie braucht die Tageszeitung – auch wenn sie möglicherweise künftig einen geringeren Umfang haben wird.

Der Leser hat für eine Tageszeitung ein Zeitbudget von 20 bis 30 Minuten. Für Ihre Warum-Zeitung wären sicher zwei, drei Stunden angemessen. Überfordert das nicht die Leser?

Überhaupt nicht. Erstens ist die Annahme, dass das Zeitbudget für die Zeitung begrenzt wäre, falsch. Ich kann Ihnen etliche Beispiele nennen, wo wir die Lesedauer deutlich erhöhen konnten, auf bis zu 45 Minuten. Und sogar junge Leute lesen mehr Zeitung, wenn das Angebot stimmt. Eine absichtlich im Umfragepanel verjüngte Leserschaft hat das bei ReaderScan-Untersuchungen klar bestätigt. Natürlich kommt es vor, dass das Zeitbudget innerhalb einer Woche sehr schwankt. Bei Qualitätszeitungen findet man aber sogar noch eine erstaunliche Nutzung am Folgetag. Das darf man nicht unterschätzen. Etwa 20 Prozent der Zeitung werden sogar an einem der folgenden Tage genutzt. Eine Bemerkung noch zur Verbesserung der Qualität: Viele Journalisten denken, wenn das erste Buch besser gelesen wird, dann geht das zu Lasten der von Buch zwei, drei oder vier. Falsch! Die Lesedauer kann man steigern. Aber dazu ist es wichtig, jedes einzelne Stück so zu schreiben, dass es auch genutzt wird.

Ein hehrer Anspruch.

Ich zeige es Ihnen an einem Beispiel: Kulturberichte werden von vielen Leuten nicht verstanden und daher überblättert. Um das zu verhindern, braucht es ein anderes Storydesign: Der Aufmacher auf der Aufschlagseite muss massentauglich – und so geschrieben sein, dass es die breite Masse versteht. Ein Beispiel: Die Kulturchefin bei den „Salzburger Nachrichten" hat von einem ReaderScan-Durchgang zum anderen ihre Leserzahl verdoppelt, indem sie irgendwo beim Wissensstand ihrer Durchschnittsleser anflanscht. Erstaunlich sind auch so banale Details wie das: Man darf nach dem Titel nicht gleich sagen, wo etwas stattgefunden hat – da sind die Leser sehr schnell weg.

Also das Gegenteil dessen, was eine Nachricht in der Regel vermittelt.

Ja, wir stellen das auch im Zusammenhang mit den Agenturmeldungen fest. Das Storydesign von Agenturmeldungen ist falsch. In vielen Fällen steigen die Leser schon beim ersten Satz aus – in der Regel ein mehrzeiliger Schachtelsatz, der die ganze Geschichte schon erzählt. Entweder versteht der Leser den Satz gar nicht und ist dann weg, oder er fragt, warum soll ich jetzt noch den Rest lesen? Wenn im ersten Satz schon die Geschichte erzählt ist, interessiert man sich für den zweiten und dritten Satz nicht mehr. Wir können feststellen, dass ein Leser jene Beiträge am besten nutzt, die er als Geschichten weitererzählen kann. Dort, wo ein Journalist aus einem Wirtschaftsstoff, aus einen Politikstoff eine Geschichte macht, hat er eine hohe Chance, dass er auch gelesen wird. Demgegenüber sind die klassischen Agenturmeldungen geradezu leserfeindlich, aber viele Zeitungen sind vollgepflastert damit.

Erschienen in Ausgabe 01+02/2009 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 44 bis 45 Autor/en: Interview: Johann Oberauer. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.