Dürfen wir das?

Haben die Medien vor der Finanzkrise zu laut gewarnt und die negativen Folgen damit verstärkt – oder hat der Ausguck auf der Titanic mal wieder nichts gesehen? Die Frage ist nur im Zeitablauf zu beantworten. Blättern wir drei Jahre zurück – da gab es Warnungen vor eine Immobilienblase in Großbritannien und den USA. Robert Shiller beispielsweise entwickelte deshalb einen Hauspreisindex. Ökonomen warnten, dass die weltweiten Finanztransaktionen weitaus schneller zunehmen als der globale Handel mit Gütern und Dienstleistungen. Heftig diskutiert wurde die Frage, ob das wachsende Leistungsbilanzdefizit der USA zu einer „soft landing" oder zu einer „hard landing" führen würde. Aus den Hörsälen der Mathematik gab es Hinweise darauf, dass die glatten, weich verlaufenden Kurven der Ökonomen nicht der Normal-, sondern eher der Sonderfall in einer Welt der Zacken sind und der Crash die Regel und nicht die Ausnahme ist. Darüber berichteten Journalisten – als allgemeine Warnung an den Kapitän der Titanic, dass es im Nordatlantik Eisberge geben könnte um diese Jahreszeit.

Vor zwei Jahren hat sich die Lage geändert – die analytisch starken Medien wie „FAZ", „Handelsblatt" und „WirtschaftsWoche" thematisierten die ersten Verwerfungen in der Finanzindustrie. Die „WirtschaftsWoche" hat zum Beispiel seit August 2007 mit den ersten Titelgeschichten („Wie gefährlich ist die US-Finanzkrise für Ihre Lebensversicherung?") die Entwicklung vorweggenommen und sie seither mit einem brennenden Bankgebäude als Logo begleitet. Aber erst mit der Pleite der Lehman Brothers wurde die Finanzkrise zum publizistischen Allgemeinplatz – da war die Titanic an den Eisberg gerummst. Kamen die Geschichten zu spät oder gerade noch rechtzeitig?

Die Crux ist: Journalismus reagiert Anlass-bezogen. Es ist ja schwer, einen Schaden zu beschreiben, solange er hypothetisch ist, schwer, eine Weltwirtschaftskrise in die Blätter zu malen, wenn die Arbeitslosigkeit sinkt, das Wachstum brummt, die Steuereinnahmen sprudeln und nur einige monetäre Sig- nale auf Rot wechseln. Der Weg vom Visionär zum Apokalyptiker ist kurz. So muss man wohl unvermeidlicherweise zufrieden sein damit, dass es einige Leitmedien gibt, die erstaunliche prognostische Fähigkeiten bewiesen haben. Nicht alle wissen alles – einige haben die Nasenspitze deutlich vorn.

Doch derzeit läuft eine ganz andere Debatte: Dürfen Medien das eigentlich – ständig schlechte Nachrichten verbreiten? Wir kennen ja alle diesen besorgten Dackelblick bei der Forderung: „Schreibt doch mal was Positives." Augenblicklich erlebe ich dazu eine neue Qualität. Zunächst haben es ja die Banken verstanden, ihr Geschäft als „systemisches Risiko" zu verkaufen, was nichts anderes ist, als dass man Staat und Steuerzahler zur Geisel nimmt, wenn der Bankrott der Bank droht. Neuerdings werden wir Journalisten als Geisel mit einbezogen. Der Druck, Nachrichten zu unterdrücken, nimmt zu. Die „Bild"-Zeitung erhält einen Journalistenpreis dafür, dass sie Panikmache vermieden hat. Ja, haben die. Sie haben nicht geschrieben, was richtig war – nämlich, dass es zumindest vorübergehend sicherer gewesen wäre, das Geld zu Hause unter die Matratze zu packen, statt auf der Bank zu belassen. In Talkshows wurden Beruhigungspillen aus der Regierungsapotheke verabreicht. Sachlich war das falsch. Und „glücklich" nennt „brand eins" den Commerzbank-Deal der Allianz: Nur 14 Milliarden Euro Verlust an Deal und 8 Milliarden Euro Jahresverlust: „Es hätte schlimmer kommen können". So schönt sonst nicht mal die Pressestelle Fakten.

Vorsicht ! Viel ist von verantwortungsvollem Journalismus die Rede – der nicht schreiben darf, was ist, weil er damit auslöst, was alles verschlimmern könnte: Den Run auf die Bank.

Ich bin mir ja seit vielen Jahren selbst unsicher – die Fragilität der Finanzindustrie bereits Anfang des Jahrtausends hätte es ermöglicht, eine der großen Pleitebanken schon damals in den Abgrund zu stoßen. Die Verantwortung dafür wollte ich nicht auf mich nehmen. Es war damals richtig, und heute falsch, denn heute ist der Schaden noch größer, den diese Bank angerichtet hat. Und längst reden die Menschen ganz offen über Dinge, die viele Journalisten in ihrem Verantwortungsgefühl fürs Große und Ganze verdrängen: Staatsbankrott, Währungsreform, Weltwirtschaftskrise. Sie kaufen Gold und verteilen ihre Ersparnisse auf möglichst viele Banken. Ja, Journalismus kann Tendenzen verschärfen, Krisen zu Katastrophen hoch schreiben. Sind wir stark genug, um diese Verantwortung zu tragen? Aber wenn wir es nicht schreiben – es schreibt sich doch. Die Anzahl der Seiten mit Verschwörungstheorien und Untergangsprognosen aller Art im Internet nimmt täglich zu. Die Leser und Zuschauer verlieren ihr Restvertrauen in die Medien, wenn nur noch schöngeredet wird. Denn alle spüren: Da draußen schwimmt ein verdammt großer Eisberg herum.

Erschienen in Ausgabe 03/2009 in der Rubrik „Standpunkt“ auf Seite 56 bis 57 Autor/en: Roland Tichy. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.