Verklagt mich doch!

?Herr Wallraff, man könnte Sie als Empörungsmaschine bezeichnen: Sie werden über Missstände informiert, suchen den Tatort auf, recherchieren – und heraus kommt ein Skandal. Sind Sie von vornherein auf Skandal programmiert?

Günter Wallraff: Unsinn, ich bin doch keine Maschine. Zu Beginn einer Recherche kann ich nie sagen, wie das Ergebnis aussehen wird, dafür ist die Wirklichkeit viel zu kompliziert. Ich muss oft Um- und Nebenwege gehen, manchmal auch umkehren, in jedem Fall ständig improvisieren, meine Rolle immer wieder neu definieren. Dieses spielerische Element ist ganz entscheidend bei meiner Arbeit. Aber vor allem erfordert sie Leidenschaft, Einfühlungsvermögen und nicht zuletzt die Bereitschaft, alles zu riskieren – unter Umständen sogar mein eigenes Leben.

Der frühere Moderator der Tagesthemen Hanns Joachim Friedrichs hat einmal gesagt: „Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache." Sind Sie also kein guter Journalist?

Mit diesem Motto hat sich Hajo Friedrichs, der mir beistand, als der Springerkonzern mich mit Prozessen überzog, verdienterweise selbst nicht gemein gemacht; als er 1978 als Sportchef des ZDF zur Fußballweltmeisterschaft in die damalige argentinische Militärdiktatur entsandt wurde, hat er nicht nur über den Fußball, sondern auch engagiert und parteiisch über Folter und Morde an politischen Gefangenen berichtet. Und wie man mich einordnet, interessiert mich nicht. Das ist eine akademische Debatte. Ich will nicht Journalist sein, sondern einfach nach meinem Gewissen handeln. Dabei bin ich auch parteiisch, keine Frage. Ich lasse mich aber nicht instrumentalisieren, ich diene niemandem als Sprachrohr. Allerdings gilt für mich: Der Schwächere bekommt mehr Zuwendung und Aufmerksamkeit von mir. Heinrich Böll hat einmal ganz in meinem Sinne gesagt, dass das Recht auf Seiten der Opfer ist, weil sie die Leidtragenden sind – auch wenn sie nicht in allen Punkten recht haben.

Von Objektivität und Distanz kann in Ihren Reportagen keine Rede sein. Sie werden zum Akteur – was nicht ohne Folgen bleibt. Über Ihre Undercover-Recherche als „Bild"-Redakteur Hans Esser haben Sie einmal gesagt: „Das war wie nach einer Gehirnwäsche."

Ja, das war so. Und was die Objektivität angeht: Es gibt sie nicht. Journalisten, die behaupten, sie seien unparteiisch, machen sich und anderen was vor: Entweder wissen sie nicht, wie stark sie an bestimmte Interessen gebunden sind, oder sie verschweigen es bewusst. Ich bin gerne bereit, meine Distanz aufzugeben, wenn ich dadurch der Wahrheit näherkomme – anstatt in einer Pseudo-Distanz zu verharren und abgehoben über die Wirklichkeit hinweg zu schreiben. In Wissenschaft und Literatur ist dieses Prinzip der teilnehmenden Beobachtung längst anerkannt.

Aber gehört zu diesem Anspruch nicht auch, dass man das Geschehen so differenziert und nuancenreich wie nur irgendwie möglich schildert? Sie malen stets schwarz-weiß: auf der einen Seite die geldgierigen, bösen Kapitalisten, auf der anderen die armen, ausgebeuteten Arbeiter.

Das stimmt so nicht, nein. Schaute ich nicht sehr genau hin und prüfte jedes Detail meiner Reportagen wieder und wieder, dann scheiterte ich spätestens vor Gericht. Denn auf eines können Sie sich verlassen: Wenn Sie über einen mächtigen Kontrahenten etwas Falsches behaupten, weil Sie nicht sauber recherchiert haben, dann wird der alle juristischen Mittel ausschöpfen, um seinen Ruf zu retten, und Sie fertigmachen. Schon aus diesem Grund kann ich ruhigen Gewissens behaupten: Mein Weltbild ist alles andere als simpel. Ich könnte es mir gar nicht leisten, einer starren Ideologie zu verfallen und Unwahrheiten zu verbreiten.

„Man muss täuschen und sich verstellen, um die Wahrheit herauszufinden" – haben Sie 1985 in Ihrem Bestseller „Ganz unten" Ihre umstrittene Methode der Undercover-Recherche verteidigt. Heiligt der gute Zweck jedes Mittel?

Nein, auf keinen Fall. Es gilt stets, die verschiedenen Rechtsgüter gegeneinander abzuwägen und sich den Fragen der Öffentlichkeit zu stellen: Ist man zu weit gegangen? Rechtfertigt das Ergebnis die eigene Vorgehensweise? Meine Auffassung ist: Wenn die Missstände schwerwiegend sind und die betroffenen Menschen sich nicht wehren können, ist eine Undercover-Recherche nicht nur erlaubt, sondern unbedingt notwendig. Wenn dann alles publiziert ist, können die Verantwortlichen mich gern verklagen und die Wahrheitsfindung der Justiz überlassen. Manchmal fordere ich sie regelrecht dazu auf: Bitte prozessiert!

Früher wurden Ihren Methoden sehr viel schärfer kritisiert, inzwischen werden Sie als Symbolfigur des kämpferischen Enthüllungsjournalismus gefeiert. Wie erklären Sie sich das?

Es gibt heute sehr viele Menschen, die enttäuscht sind. Sie merken, dass man ihnen keine Chance gibt, dass die Eliten ihre privilegierte Stellung festigen und dass es immer schwieriger wird, sich von unten hochzuarbeiten. Spürbar ist, dass der Mittelstand abrutscht und dass viele Angst davor haben, ihren Job zu verlieren, und deshalb lieber den Mund halten. In diesem Klima wird meine Arbeit heute wieder sehr viel stärker beachtet als noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Das merke ich auch an den zahllosen Briefen, die mir verzweifelte und verängstigte Menschen schreiben.

Ihr Comeback als Undercover-Reporter haben Sie einer Geschichte aus Callcentern zu verdanken. Dass die Sitten dort rau sind, war aber keine wirkliche Überraschung. Trotzdem hat Ihre Reportage eine intensive Diskussion darüber ausgelöst. Wie konnte das gelingen?

An einer solchen Geschichte sieht man, dass es eben nicht reicht, die Fakten zu kennen, sondern dass man sie erfahrbar machen muss. Genau das versuche ich in meinen Arbeiten, denn bloße Fakten töten die Vorstellungskraft. Ich selbst kann schlecht abstrakt denken – deshalb war ich auf dem Gymnasium so ein Versager – und halte es mit Bertolt Brecht, der gesagt hat: „Das Verbrechen hat Name, Anschrift und Gestalt." Das Besondere an meiner Methode ist, dass sie die Konkretion erzwingt, dass ich mich entäußere, meinen eigenen Kopf hinhalte und so persönlich Zeugnis ablegen kann. Das ansonsten Abstrakte wird so miterleb- und fühlbar.

Ihre Rollen sind genau konzipiert. Als „Bild"-Redakteur Hans Esser erzählten Sie der Redaktion, Sie hätten als Werbetexter und als Soldat bei der psychologischen Kriegsführung der Bundeswehr gearbeitet. Wie entwickelt man die passende Legende?

Zuerst lote ich das Milieu aus, in dem ich recherchieren will. Wie gehen die Leute dort miteinander um? Welchen Habitus haben sie? Erst dann entwerfe ich den passenden Lebenslauf. Hans Esser hatte eine militärische Vergangenheit, weil „Bild" damals noch militaristischer war als heute. Karriere-Typen der Bundeswehr mit aggressiv-dröhnendem Auftreten wurden bevorzugt. Allerdings achte ich grundsätzlich darauf, nicht zu viele biografische Angaben zu machen, denn die Rolle darf nicht zu starr sein, und ich muss mich – gerade wenn die Gefahr besteht aufzufliegen – sofort neuen Situationen anpassen können.

Sie geben sich bescheiden. Warum wird Ihnen trotzdem immer wieder vorgeworfen, Sie seien ein Selbstdarsteller? Ein Beispiel: Als Sie in einer Moschee aus den „Satanischen Versen" von Salman Rushdie vorlesen wollten, schrieb „Bild"-Kolumnist Franz-Josef Wagner: „Ich glaube, Sie sind einfach nur publicitysüchtig, heldensüchtig, ins Fadenkreuz der Al-Qaida zu geraten, geil, ich, Wallraff, Seite 1. Superman."

Da zitieren Sie den Richtigen! Ich giere nicht nach Erfolg oder Aufmerksamkeit, ganz im Gegenteil. Viel eher habe ich das Bedürfnis, mich unsichtbar zu machen. Dass dieser delirierende Typ von „Bild" über mich hergefallen ist, habe ich erleichtert zur Kenntnis genommen, denn auf gewisse Feindschaften bestehe ich. Im Zusammenhang mit meiner Callcenter-Reportage war ich zuvor in der „Welt" unter dem Titel „Respekt
vor Wallraff" noch in den höchsten Tönen gelobt worden. Ich war richtig erschrocken und dachte: Was macht du jetzt, wenn auch „Bild" anfängt, dich zu loben? Dann ist alles zu spät, dann bist du vereinnahmt und kannst einpacken. Sie können mir glauben, ich war richtig erleichtert, als dann diese mir sehr vertraute hassschäumende Anmache in der „Bild" erschien. Da war für mich die Welt wieder in Ordnung.

In Schwedens Wörterbüchern wird Ihre Methode der Undercover-Recherche als „wallraffa" bezeichnet. Macht Sie das stolz?

Ich lasse es mir gern gefallen. Und im Norwegischen gibt es das Verb übrigens auch, obgleich jüngere Menschen oft nur noch den Begriff kennen, aber mit mir als Person nichts mehr anfangen können. Auch daran sehen Sie, dass ich nicht der Einzige bin, der undercover recherchiert. Ich habe diese Methode für mich entdeckt. Ich bin mit ihr bekannt geworden, aber erfunden habe ich sie nicht. Meine Eitelkeit hält sich in diesem sehr eitlen Berufsstand der Journalisten, Künstler und Schriftsteller vergleichsweise in Grenzen.

Was treibt Sie dann?

Es ist der Drang, Unrecht aufzuspüren, aufzuklären und dazu beizutragen, schlimme Zustände von Fall zu Fall abstellen zu helfen – darum geht es. Meine Reportagen sind ein Bewusstseins-verändernder Stoff. Meistens sind die Missstände so gravierend, dass ich gar nicht anders kann, als mich einzumischen – und notfalls dafür eine Menge einzustecken. Ich frage mich schon häufiger: Warum regt sich sonst niemand auf? Warum nehmen es alle hin? Wenn ich etwas verändern kann, ist das eine unheimliche Genugtuung für mich. Dann spüre ich eine starke Zugehörigkeit zu den Menschen, denen ich geholfen habe, und fühle mich nicht mehr so fremd.

Der Soziologe Kurt Imhof sagt, dass Skandale eine Problematisierungsfunktion haben. Sie zeigten der Gesellschaft, was verändert werden müsse. Wie fällt Ihre persönliche Skandal-Bilanz aus, Herr Wallraff?

Durchwachsen. Vieles wurde nach einer kurzen Phase öffentlicher Empörung verdrängt oder nur halbherzig angepackt, aber es gab auch positive Reaktionen. Mitarbeiter einer Firma bekamen auf einmal rückwirkend mehr Lohn, nachdem ich über ihre miserable Bezahlung berichtet hatte. Die Arbeitsbedingungen von türkischen Gastarbeitern wurden nach der Veröffentlichung meines Buches „Ganz unten" stärker kontrolliert und verbessert. Nach meiner Callcenter-Reportage hat man sich entschieden, den Verbraucherschutz zu stärken. Für bestimmte Gewinnspiele darf heute nicht mehr per Telefon geworben werden. Und die SKL-Show, die lange vom honorigen Herrn Jauch moderiert wurde und der als Werbefigur indirekt Beihilfe zum Betrug leistete, gibt es auch nicht mehr.

Ist Ihre Arbeit eigentlich wegen des zunehmenden Einflusses von PR-Leuten schwieriger geworden?

Das ist keine ganz neue Situation. Nachdem mein Buch über die Lügen der „Bild"-Zeitung 1977 erschienen war, verlor das Blatt stark an Auflage, konnte diese aber durch eine riesige Werbekampagne wieder steigern. Aber es stimmt schon, dass die PR-Maschinerie heute noch viel raffinierter ist und effektiver arbeitet. Und doch sollte man die Öffentlichkeit nicht unterschätzen: Wieso sind Politiker so unbeliebt, obwohl sie sich von einer ganzen Armada von Beratern und Öffentlichkeitsarbeitern durchstylen lassen? Die Antwort lautet: Weil man den Menschen höchstens zeitweilig etwas vormachen kann – und sich aller PR-Maßnahmen zum Trotz eine Gegenöffentlichkeit und Gegenmeinung bildet. Diese herzustellen, darin sehe ich eine meiner Aufgaben.

Wieso inszenieren Sie sich immer als Einzelkämpfer? Günter Wallraff, allein gegen die Mächtigen.

Ich bin ein Einzelkämpfer, das ist keine Inszenierung, sondern eine Tatsache. Ich arbeite als Dramaturg, Regisseur und Schauspieler in einer Person. Wenn ich recherchiere und undercover unterwegs bin, dann gehe ich das alleinige Risiko ein. An mein Archiv und die Papierstapel, die hier in meiner Wohnung emporwachsen, lasse ich ohnehin keinen Fremden ran. Das ist wie bei der Ausgrabung eines Archäologen: Wenn die Schichten erst einmal durcheinander geraten sind, dann findet man nichts mehr wieder. Aber es gibt Menschen, die mich von Fall zu Fall unterstützen – zum Beispiel mit versteckten Kameras, weil dies die filmische Umsetzung der Geschichte erfordert.

Sie wurden nicht immer als Held gefeiert, sondern mitunter auch heftig angegriffen. Im Jahr 2003 wurden Sie verdächtigt, sich mit der Stasi eingelassen zu haben.

Die Stasi-Vorwürfe wurden vor allem von der Springer-Presse lanciert – und eine Zeit lang fühlte ich mich vollkommen ohnmächtig. Ich hatte den Eindruck, man wollte sich an mir rächen, weil ich die kriminellen Methoden der „Bild" aufgedeckt hatte. Aber glücklicherweise leben wir in einem Rechtsstaat. In den Jahren 1968 bis 1971 hatte ich einige Male Archive genutzt, die von der Staatssicherheit beaufsichtigt wurden. Das Hanseatische Oberlandesgericht hat die Beweislage sehr sorgfältig geprüft und dem Axel-Springer-Verlag ein für alle Mal verboten, mich der Zusammenarbeit mit der Stasi zu bezichtigen.

Als 17-Jähriger schrieben Sie in Ihr Tagebuch: „Ich bin mein eigener heimlicher Maskenbildner, setze mir ständig neue Masken auf, um mich zu suchen." Haben Sie sich inzwischen selbst gefunden?

Ich bin immer noch unvollendet, ein Suchender, und das soll auch so bleiben. Aber aus der Maske ist inzwischen ein Gesicht entstanden, deutliche Konturen zeichnen sich ab. Durch die Rollen, in die ich schlüpfe, habe ich paradoxerweise eine sehr eigene Identität entwickelt. Es ist auch eine Art Selbsttherapie. Ich habe viele Ängste überwunden und an Selbstbewusstsein gewonnen. In meiner Jugend musste ich mich fast dafür entschuldigen, dass es mich überhaupt gab. Ich gehörte nirgendwo wirklich dazu, war total entfremdet. Heute weiß ich, wer ich bin und was mich antreibt. Und ich fühle mich denen am nächsten und zugehörig, die nicht dazugehören.

Erschienen in Ausgabe 03/2009 in der Rubrik „Beruf“ auf Seite 52 bis 53 Autor/en: Interview: Inse Leiner und Gregor Haschnik. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.