Eine Frage der Zeit

Als Wolfgang Blau eines Morgens aus unruhigen Träumen erwacht, findet er sich im Bett eines schäbigen Stundenhotels wieder. Sein Blick fällt auf den Fernseher, der mit einem eisernen Fahrradschloss gegen Begehrlichkeiten der Gäste gesichert ist. Quer gestellt an der Wand gegenüber ein weiteres schmales Bett, darin eine Frau – seine Frau. Bei Tag sieht das Zimmer noch gammeliger aus als im schummrigen Abendlicht gestern. Sie beschließen, es sei wohl das Beste, hier auf eine Morgendusche zu verzichten. Schnell raus – auf die Straße und rein in die nächste Stadt.

Im Herbst 2007 war das, Wolfgang Blau und seine Frau Alysa Selene touren durch Deutschland. Nach zehn Jahren USA trifft das Journalistenpaar auf ungeschminkte deutsche Tristesse, aber auch auf begeisterte Gastgeber. Jeden Abend lesen sie in einer anderen Stadt aus ihrem gemeinsamen Buch „German Dream". Es ist keine klassische Lesereise, sondern eher ein Experiment, das aus einem Internetprojekt entstanden ist. Und es sagt viel über Wolfgang Blaus Drang aus, neue Wege auszuprobieren, Dinge anders zu machen. Kein Vorlesen in Buchhandlungen, keine Frontalbeschallung vor zig Stuhlreihen. Stattdessen folgen die Autoren den halbprivaten Einladungen zur Lesung und Diskussion in der Küche oder auf der Couch im Wohnzimmer. Einzige Regel: Mindestens 20 Zuhörer müssen dabei sein. Und sie übernachten dann eben dort, wo man ihnen ein Plätzchen anbietet. Am Abend vor dem Stundenhotel-Desaster hatten sie noch eine königliche Unterkunft – im Bad waren Rosenblätter ausgestreut.

„German Dream" haben die beiden zunächst als Online-Interviewserie fürs ZDF entwickelt: 30 Autoren und Denker aus aller Welt, darunter der ehemalige israelische Botschafter in Deutschland, Avi Primor, der brasilianische Bestsellerautor Paulo Coelho und der amerikanische DNA-Entzifferer Craig Venter, erzählen von ihren Träumen für Deutschland. Es soll das Gegenprogramm zur deutschen Jammer-Arie sein. Das Ergebnis ist ein erfolgreicher Podcast. Das Autorenpaar beschließt, die Serie auch auf Papier zu veröffentlichen und mit den Lesern von Angesicht zu Angesicht über deutsche Träume zu sprechen. Eben noch im Internet, jetzt schon auf der Wohnzimmercouch. Die virtuelle und reale Welt verschmelzen in dem Projekt, das erzählt Blau auch heute noch begeistert. In kürzester Zeit lernen die beiden Deutschland aus einer sehr direkten Perspektive kennen, unverfälscht, drastisch und ganz privat.

Es ist eines von Blaus letzten großen Projekten als freier Autor. Danach wird sich alles ändern. Er wird Chef von „Zeit online". Wird aus dem coolen San Francisco ins unterkühlte Eppendorf in Hamburg ziehen. In diesen Stadtteil, wo es die vielen Luxus-Wohnungen an den hübschen Kanälen, aber auch ein bisschen zu viele Perlenketten für seinen Geschmack gibt. Seine Frau, eine Amerikanerin, wird ihn in ein komplett neues Leben begleiten. Da hilft es, dass beide sich Deutschland vorher noch einmal genau anschauen konnten. In den Jahren zuvor war vor allem Kalifornien ihre Heimat. Blau arbeitet dort als freier Autor und Online-Kolumnist. Für „Die Welt" beschäftigt er sich mit den Kreativen und Größenwahnsinnigen des Silicon Valley, berichtet über deren neueste Internet-Hypes und Geschäftsideen. Bei „ZDFonline" ist der digitale Umbruch der US-Medienlandschaft sein Leitthema. Gleichzeitig versucht er, auch ein paar Innovationen nach Deutschland zu senden. 1999 produziert er für „Die Welt" das erste Online-Audioportal einer europäischen Tageszeitung. Für ZDF und Deutsche Welle macht er einen Podcast und ein Blog aus Washington zur US-Präsidentschaftswahl 2004. Es ist das erste Blog des ZDF und der erste Podcast eines deutschen Medienunternehmens überhaupt. Im Jahr darauf werden seine Online-Berichte über die Tsunami-Katastrophe für den Grimme Online Award nominiert. Zwischendrin berät er Medienfirmen, immer auf der Suche nach Möglichkeiten, neue Technik und journalistische Inhalte attraktiv zu verbinden.

Er wagt also den Schritt, tauscht die Rolle des Freigeistes gegen die eines angestellten Chefs. Das ahnte er schon, als er in diesem Taxi auf dem Weg zu einer Journalistentagung saß und einen Anruf aus Hamburg erhielt. Ob er sich vorstellen könne, „Zeit online" zu übernehmen? „Ich habe spontan, Nein‘ gesagt, ich dachte, das ist verrückt, ein Himmelfahrtskommando!" Er führt das nicht näher aus. Aber diese spontane Abwehrreaktion scheint auch dem Blickwinkel aus den USA geschuldet, wo journalistische Online-Angebote viel weiter sind. Von dort aus stellt sich der deutsche Online-Markt so dar, dass außer dem „Spiegel" die gesamte Verlagsbranche den frühzeitigen Einstieg ins Internet komplett verpennt hat. Und alle hoppeln hinterher. Nun kriselt’s auch noch in der Branche. Wolfgang Blau wirkt konzentriert, während er spricht, sitzt auf der vordersten Kante seines Sessels. Das, World Café, eine sehr amerikanische Einrichtung in Eppendorf, ist sein favorisiertes Etablisement zur Koffeinaufnahme, obwohl er den Kaffee fast kalt werden lässt, bevor er ihn trinkt. Er hat endlich ein paar Stunden frei, seit einer halben Ewigkeit. Denn seit März 2008 düst er von Konferenz zu Konferenz, zwischen Berlin und Hamburg hin und her.

Das Angebot hatte sich trotz aller anfänglichen Bedenken festgesetzt in seinem Kopf. Blau wendet sich an vertraute Kollegen, lotet aus, wer bereit wäre, mit ihm zu kommen, bespricht das Thema lange mit seiner Frau und schraubt noch etwas an den Bedingungen. Er besteht darauf, nicht nur inhaltlich, sondern auch für die Gestaltung der Website mitverantwortlich zu sein. „Damals hatte der Verlag die Vorstellung, das wäre so, als wenn ein Print-Chefredakteur auch noch die Druckerei kontrollieren wolle", sagt Blau. Da war er plötzlich wieder, der eingefahrene Apparat, das geheimnisvolle Wesen, das mit viel Überzeugungsarbeit verändert werden muss. „Beim Online-Journalismus ist die Technik Teil des journalistischen Farbenkastens, deshalb muss man da ein Mitspracherecht haben. Nachdem das gesichert war, war mir klar, dass wir eine Chance haben zu gewinnen." Was ihn letztlich auch überzeugt hat, sind die Gespräche mit Verleger Stefan von Holtzbrinck. Den nennt er einen „Glücksfall für die Branche" und begründet dies so: „Zum einen, weil ich glaube, dass Zeitungen und Verlage in Familienhand oder Stiftungs-Besitz die größten Chancen haben zu überleben. Wer sich quartalsweise an der Börse rechtfertigen muss, hat es schwer", so Blau. Zum anderen sei Holtzbrinck einer von wenigen Verlegern, „die in vollem Ausmaß begriffen haben, was da auf die ganze Branche zukommt". Auch, dass Holtzbrinck keine Trash-Publikationen im Portfolio hat, ist ihm wichtig.

Blau spricht mit Respekt über „Zeit online" und darüber, wie er das Angebot vorgefunden hat. Doch man hört aus der diplomatischen Formulierung auch heraus – das war eine andere Ära. „Die Redaktion hatte den Auftrag, die `Zeit´ würdig im Netz abzubilden und möglichst auch profitabel zu werden, aber sah sich nicht als Nachrichtenseite", sagt Blau. „Es konnte dort durchaus passieren, dass man montags früh eine Buchbesprechung als Aufmacher hatte, und das wurde vom Publikum auch sehr respektiert." Nur wachse die Leserschaft auf diese Weise nicht, wie sie wachsen muss. Langsam und überlegt äußert er das. Er achtet ohnehin die ganze Zeit peinlich darauf, was er sagt. Oft merkt man es ihm an, dass er, während er einen Gedanken ordnet, schnell noch etwas an den Satz dranhängt, um auf der sicheren Seite zu sein. Online-Chefs sind angreifbar. „Als ich in den USA gelebt habe, musste ich auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen und wurde oft eingeladen, um sehr schonungslos meine Meinung zu sagen." Und das sei es auch, was ihm nicht gefalle an seiner jetzigen Position: „Wie vorsichtig ich sein muss, weil ich letztlich dieses ganze Unternehmen beschützen muss. Und oft dann bei diesen Satzwindungen denke, so wolltest du eigentlich ni
e klingen." Deshalb hat er auch keine Riesenlust auf Interviews. Die neue Position muss erst noch in Fleisch und Blut übergehen.

Jetzt muss er sich also positionieren. Dabei wirkt er so gar nicht chefig. Groß, schlank und elegant ist er zwar, aber auch etwas scheu. Keiner, von dem man erwartet, dass er auf den Tisch haut. Kein Platzhirsch. Ein unverbrauchter Jahrgang ´67 – wer weiß, wie lange noch. Über die Themen, die ihn zurzeit bewegen, spricht er mit großer Ernsthaftigkeit. Schnell ist er mittendrin in der Debatte, was es im deutschen Online-Journalismus überhaupt für Möglichkeiten gibt, wenn man wirklich erfolgreich sein will. Er und die Redaktion mussten sich fragen: Sollen wir mit „Spiegel online" in den Ring steigen? Eine Nachrichtensite werden?

Oder, Zeit light‘ machen, bisschen Debatte drumherum, bisschen Multimedia, letztlich verschönerte Print-Inhalte? Das erste wäre unrealistisch, das zweite nicht erfolgreich, ist Blau überzeugt. Aber er sieht noch Raum im Markt: Für ein Angebot dazwischen. Denn bei aller Hochachtung für den Marktführer sieht er dort auch Schwächen: „`Spiegel Online‘ hat sich jetzt in diese Ecke manövriert, immer einen Brüller an der Eins haben zu müssen, auch wenn gerade nix los ist." Der Branchenprimus laufe zunehmend Gefahr, „Relevanz zu fingieren". So einen „Nachrichtenlärm" will er nicht bei „Zeit online", aber trotzdem die wichtigen News bieten mit „Zeit"-typischen Hintergrundinfos. Und er will eine „freundlichere Tonalität", keine Häme im Gewand des kritischen Journalismus. Was ihn richtig stört, ist das Boulevardeske auf den Online-Seiten namhafter Konkurrenten. „Ich finde es geradezu fahrlässig wie einige seriöse Printmarken nun ihre Online-Auftritte mit täglichen Sexstudien und Bademoden-Bildergalerien garnieren".

Die Vorstellung, nachdenklicher Journalismus müsse auf dem Papier stattfinden und das Internet sei eher fürs Schnelle und Schmutzige zuständig, findet Blau absurd. „Ist das Internet ein journalistisches Medium? Nein! Auch Papier ist kein journalistisches Medium. Papier wird größtenteils für andere Dinge verwendet als für Journalismus. Ein Großteil des Spams in meinem Leben kommt als Papier vor meiner Haustür an." Dass der Online-Journalismus noch immer unter so starkem Rechtfertigungsdruck steht, löst bei ihm Kopfschütteln aus. Deshalb sieht er sich bei aller Konkurrenz doch in einem Boot mit den anderen Online-Chefs. Es gibt Runden, in denen sie sich immer mal wieder treffen und sehr offen miteinander sprechen. Was man dort erzählt, darf später nicht gegen den anderen verwendet werden. Sie nennen es den Rütli-Schwur. Angelehnt an den bei Wilhelm Tell bedichteten Gründungsmythos der Schweiz sind sie so etwas wie Eidgenossen. „Wir wissen, wir haben eigentlich keine engeren Verbündeten als die anderen Online-Chefredakteure", erklärt Blau. Kürzlich hat er das bei einem dieser Journalistentreffen wieder gemerkt. Dort saßen einige Online-Chefs und der Moderator sagte, jetzt wollen wir ein Streitgespräch, jetzt geht mal aufeinander los. Den Gefallen haben sie dem Moderator dann aber nicht getan. „Uns ist klar, es gibt mehr Dinge, die uns verbinden als trennen. Und was uns verbindet, ist, dass kaum jemand unsere Situation versteht und diese Zwei-Klassen-Gesellschaft zwischen Print und Online endlich aufhören muss."

Bei einer Veranstaltung der dpa im April 2008 hat Wolfgang Blau dann den Ball zurückgespielt und etwas über die Zukunft der Printmedien gesagt. Eine Bemerkung, die danach oft aufgegriffen wurde. Die Tageszeitungen würden sich allmählich zu täglichen Wochenblättern wandeln müssen, wenn sie überleben wollten. Seine Prognose: Je mehr Leute das Internet als primäre Nachrichtenquelle nutzen, desto weniger wollen in der Zeitung die Nachrichten vom Vortag lesen. Also müssten sich die Tageszeitungen immer stärker auf Hintergrund, Analyse und Einordnung konzentrieren, eben wie die Wochenblätter. Das ist teurer und aufwendiger. Viele Tageszeitungen werden sich das nicht leisten können und zugrunde gehen, davon ist Blau überzeugt. Danach häuften sich die Einladungen zu Veranstaltungen, auf denen er diese These wiederholen sollte. Inzwischen hat er keine Lust mehr dazu, auf das Offensichtliche hinzuweisen. Die Rolle nervt ihn. Aber er lässt es auch, weil er ein bisschen Angst hat, als Berufskassandra abgestempelt zu werden. Und dann schiebt er doch noch – sehr kassandrahaft – hinterher, dass dieses Jahr „für uns alle sehr hart" werde. Blau sagt das besorgt, nicht rechthaberisch. Er sieht auf den gesamten Medienmarkt eine Revolution zukommen, die Geschäftsmodelle, Machtverhältnisse und das Selbstverständnis der vierten Gewalt infrage stellen wird.

Nun ist er angekommen in Deutschland. Das merkt man, wenn sich während des Gesprächs merklich die dunklen Wolken über der Medienbranche zusammenziehen, immer wieder fallen Worte wie „enormer Kostendruck", „dramatische Einschnitte". Gleichzeitig beklagt er, hier gäbe es zu wenig Optimismus. Ein kleines bisschen schizophren. Und auch wiederum sehr deutsch. Die amerikanische Offenheit für Neues, die Freude, sich in Experimente zu stürzen, hat er hinüberretten können. Auf der Strecke geblieben ist etwas, das er das „Spielerische im Alltag" nennt. Blau eckte damit anfangs an, als er die amerikanischen Umgangsformen auf deutsche Redaktionsflure verlagerte, und einfach anfing zu blödeln, um Druck abzubauen. Dann fragte er den Kollegen: Sag mal, ich kenn dich doch von irgendwoher. Arbeitest du hier? In Amerika haben sie dann gelacht, sich ein paar Dinge an den Kopf geworfen und befreit weiter gearbeitet. „Hier hab‘ ich das Gefühl, die Leute halten still und warten, bis das soziale Programm weitergeht." Blau macht deshalb nicht mehr so viel Quatsch auf dem Flur. Dafür hat er in Deutschland etwas zurückgewonnen, was ihm in den USA fehlte: Tiefsinn. Ein Thema auszudiskutieren, manchmal so lange, bis keiner mehr weiß, worum es eigentlich ging. Das findet er „liebenswert".

Seit Blaus Heimkehr hat sich sein Auftrag potenziert. Gerade mal neun Monate nach seinem Antritt soll „Zeit online" zur führenden journalistischen Qualitätsmarke von Holtzbrinck im Internet ausgebaut werden. Dafür wurden die Redaktionen von „Zeit online", „tagespiegel.de" und – das inzwischen eingestellte – „zoomer.de" zusammengelegt. Hinzu kommt eine Hauptstadtredaktion – insgesamt 48 Redakteure, alles unter Leitung von Wolfgang Blau. Chefredakteur, gleich mehrfach. Und das, obwohl er sich nie festanstellen lassen wollte.

Ungebunden war er und wollte es immer bleiben. Einer, der einfach seinen Namen aufgibt, weil ihm ein anderer besser gefällt. Obwohl er sich jahrelang unter richtigem Familiennamen – Wolfgang Harrer – ein gewisses Standing erschrieben hat. Nun steht seit gut zwei Jahren der Künstlername Blau in seinem Pass. „Ich finde den Namen schön, blau ist meine Lieblingsfarbe". Und diesmal wirkt er so, als würde er nicht genau überlegen, bevor er es ausspricht, dieses etwas naive Bekenntnis für jemanden in seiner Position. Nicht vorsichtig, einfach ehrlich sagt er: „Ich liebe diese Farbe sehr, so sehr, dass ich als 14-Jähriger anfing zu fliegen, Segelfliegen. Ich bin happy, wenn ich irgendwo liegen kann und den Wolken zuschaue, da habe ich die besten Ideen." Diese Vorlieben muss er jetzt an sein beschleunigtes Leben anpassen: Die Wolken sieht er nämlich meist nur noch in Fetzen vorbeifliegen – auf seinen vielen ICE-Fahrten zwischen Hamburg und Hauptstadt, bei gut 200 Stundenkilometern. Und was da am Zugfenster vorbeirauscht, ist momentan eher grau. Bis etwas Blau durchbricht – nur eine Frage der Zeit.

Erschienen in Ausgabe 04+05/2009 in der Rubrik „Beruf“ auf Seite 54 bis 55 Autor/en: Iris Ockenfels. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wende
n Sie sich bitte direkt an die Redaktion.