Zäsur

Frank Nipkau, der Redaktionsleiter der „Winnender Zeitung“, ist vier Wochen nach dem Amoklauf immer noch erschüttert. Von den Morden an den 15 Menschen, vom Leid der Angehörigen und Freunde. Aber auch vom Gebaren der sogenannten „Qualitätsmedien“: „Wenn ich Revue passieren lasse, wer da alles bei mir angerufen hat, kann ich nur eine Schlussfolgerung ziehen: Der journalistische Mainstream hat sich längst von der Berufsethik verabschiedet“. Er spricht sogar von einer „dreifachen Entgrenzung“: 1) Es wird keine Distanz mehr zu Trauernden eingehalten. 2) Schwer traumatisierte Menschen werden bedrängt. 3) Es findet geradezu eine Jagd statt auf die Opfer, nach Namen, Adressen, Telefonnummern und Fotos von getöteten Schülern und Lehrern. Das alles erinnert an die Geschehnisse von 2002 in Erfurt. Doch der Fall Winnenden ist eine neue Zäsur, weil er wie unter einem Brennglas zeigt, was heute die digitalisierte Welt für die Kommunikation bedeutet: Die klassischen Medien haben ihre Informationshoheit verloren, die Atemlosigkeit und Skrupellosigkeit, mit der Nachrichten in die Welt gesetzt und wieder revidiert werden, hat sich noch einmal beschleunigt.

Schuld an dieser Misere ist aber keineswegs, was „Welt am Sonntag“-Chefredakteur Thomas Schmid so beschrieb: „Tim K. wusste wohl, dass er schon Stunden nach seiner Tat auf immer in die Hall of Fame des Verbrechens eingehen würde. Mit seiner Tat hat er die große Erzählung vom Amok weitergesponnen. Dass er das konnte, ist auch eine Folge von medialer Demokratisierung.“ Unter dem Titel: Die „Unsterblichkeit des Amoktäters“ argumentierte Schmid weiter: „Letztlich aber sind es nicht einmal, wie die linke Kulturkritik meint, „die“ Medien, die dem Täter zum Ruhm verhelfen. Es sind Krethi und Plethi, die das (oft mit medialer Hilfestellung) besorgen.“

Widerspruch. Wer wie beim Fall Winnenden als Journalist Worte wählt wie „Hall auf Fame“ oder „Krethi und Plethi“ als Synonym für die Blogger- und Twitter-Gemeinde bedient, macht sich schuldig: Er trägt bei zum Vertrauensverlust in die Medien, die doch für sich selbst beanspruchen, sorgfältiger und seriöser als„die anderen“ zu sein. Gerade jener Beitrag aus der WamS zeugt von einer falschen Überheblichkeit, weil er mit einem Foto illustriert war, das nicht – wie die Überschrift nahelegte – den Attentäter zeigte, sondern einen unbescholtenen Jungen bei der Trauerfeier in Winnenden (s.a. „schlimmer Fehlgriff der Welt am Sonntag“, www.mediummagazin.de, Aktuelles). Vier Wochen später mag alles vergessen sein. Längst bestimmen andere Schlagzeilen die Aufmacher in Zeitungen und Nachrichten. Im Internet, dem elektronischen Gedächnis dieser Zeit, aber zeigt sich in den hunderten Kommentaren zur Berichterstattung auf den Medienwebsites, vor allem aber in Blogbeiträgen fern des Medienetablishments erschreckend deutlich: Immer mehr Nutzer, Leser wenden sich enttäuscht von den klassischen Medien ab und suchen sich eigene, neue Informationskanäle.

„Ist es vorstellbar, dieses wahrhaft massenmediale Angebot wieder zurückzuziehen? fragt Thomas Schmid am Ende seines WamS-Artikels? Nein. Die Frage sollte eher lauten: Ist es vorstellbar, dass wir, die Medien selbst, daraus etwas lernen? Zum Beispiel Quellen sorgfältiger zu prüfen, auch um den Preis, nicht der erste Informant, dafür verlässlich zu sein; das Internet nicht zum Wildern nach Fotos von Opfern zu nutzen; Privatsphären zu respektieren.

Klingt altmodisch? Mag sein. Aber wer auf die Verwahrlosung der Sitten durch eine Massendemokratisierung der Kommunikation schimpft, sollte selbst mit umso besserem Beispiel vorangehen. Dass das sehr wohl möglich ist, zeigten nach dem Amoklauf nicht die großen, selbst ernannten Meinungsführer der Medien. Sondern die kleine „Winnender Zeitung“, die den besten Weg zur Berichterstattung fand: Sie hat nicht über die Beerdigungen berichtet. Sie hat auch keine Opfer-Fotos gezeigt, weil die Angehörigen das nicht wollten. Und sie hat ein Zeichen gesetzt – „ganz bewusst als Reaktion auf die Bedrängnis der Menschen durch die Medienhorde“ – indem sie titelte: „Lasst uns in Ruhe trauern“.

Annette Milz

Erschienen in Ausgabe 04+05/2009 in der Rubrik „Editorial“ auf Seite 3 bis 5. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.