Baut Beiboote!

?Herr Ziesemer, Herr Wegner, für einen Tag sind Sie Analysten einer Rating-Agentur und müssen „Handelsblatt“ bzw. „Focus Online“ bewerten. Zu welchem Ergebnis kommen Sie?

Bernd Ziesemer: Glücklicherweise sind wir auf Ratings nicht angewiesen. Aber ich will mich trotzdem vor Ihrem Spiel nicht drücken: Ich würde uns, soweit ich es beurteilen kann, ein stabiles Rating geben. Wir sind solide finanziert, haben starke Marken und keine Bankschulden.

Allerdings: Ratingagenturen und Banken betrachten alle Medien zur Zeit sehr kritisch. Dahinter stecken aber Denkfehler. Der größte ist der Vergleich von amerikanischen mit deutschen Medien und die These „Weil´s dem US-Printmarkt schlecht geht, wird es auch in Deutschland bergab gehen“. Das lässt wesentliche kulturelle Unterschiede außer Acht.

Jochen Wegner: „Focus Online“ gebe ich ein solides Doppel-A. Online-Medien verdienen zwar um Größenordnungen weniger als klassische, dafür müssen sie weder Druckerpressen noch Distribution finanzieren, und ihre Erlöse stehen auf einer breiteren Basis. Sie sind nicht mehr ganz so stark vom launischen Anzeigenmarkt abhängig, sondern lassen sich mit neuen Geschäftsmodellen verbinden.

Früher haben nur Betriebswirte und Verleger von Geschäftsmodellen gesprochen, neuerdings auch Journalisten. Meinen Sie dasselbe?

Wegner: Bei „Focus Online“ sprechen wir von „Beibooten“, die unser journalistisches Flaggschiff begleiten und uns mehr Freiraum verschaffen sollen. In diesen Tagen starten wir mit „Finanzen100“ ein neues Finanzportal, mit „Jameda“ haben wir in eine Arztbewertungs-Plattform investiert, weitere Projekte folgen noch in diesem Jahr. Solche Angebote passen gut zur Marke „Focus“, die nicht nur für Nachrichten, sondern auch für Nutzwert steht.

Die ökonomische Basis des Journalismus, sein Geschäftsmodell, wird in den nächsten Jahren neu begründet werden. Und wir Journalisten sind gut beraten, diesen fundamentalen Wandel nicht alleine den Unternehmensberatern, Controllern und Flanellmännchen zu überlassen.

Ziesemer: Exklusive Datenbanken, für uns etwa Finanztools, sind in der Tat ein guter Weg. Das Problem geht aber tiefer: Zu viele Angebote im Internet sind austauschbar, leider auch im Printjournalismus. Der Wert einer simplen Nachricht im Netz geht heute gegen null. Exklusive Nachrichten hingegen, die zur jeweiligen Medienmarke passen, können auch im Netz sehr viel wert sein. Wir konzentrieren uns ganz auf exklusive Wirtschafts- und Finanznachrichten. Alle Versuche, „Spiegel Online“ nachzueifern, scheitern doch sowieso. Der Platz ist vergeben. Wir brauchen stattdessen eine Differenzierung der Medienangebote auch und gerade im Netz.

Wegner: Das immer Gleiche zu wiederholen, ist bis heute ein Kernprinzip vieler Medien. Als Land der Regionen sind wir etwa stolz auf unsere vielfältige Tageszeitungskultur, die allerdings zu einem Gutteil von identischem Material lebt. Aber im Netz kollabiert eine noch so große Menge redundanter Informationen fast automatisch zu einer einzigen. Damit ist nicht nur der Copy-and-Paste-Journalismus bedroht, sondern etwa auch das bisherige Modell der Nachrichtenagenturen.

… dem Sie ja gerade selbst mit dem neuen Portal „nachrichten.de“ Konkurrenz machen wollen. Argumentieren Sie da pro domo, oder wie sollen wir das verstehen?

Wegner: nachrichten.de ist einerseits ein automatisch erstelltes, minutenaktuelles Online-Magazin, das minütlich 600 bis 800 journalistische Quellen analysiert, andererseits auch ein Hilfsmittel für Verlage. Die Technik, die dahinter steht, werden wir anderen zur Verfügung stellen.

Wir können damit sehr gut studieren, wie stark die Kopier-Bewegung wirklich ist: Es ist keine Seltenheit, dass hundert Medien in einer Stunde dieselbe dpa-Meldung bringen. Natürlich ist es wichtig, ein Angebot mit Agenturen zu ergänzen, und auch „Focus Online“ bedient sich aller wesentlichen Dienste – wohl wissend, dass uns nur unser eigener Ansatz wirklich weiterbringt. So wenig wert die immer gleiche News im Netz ist, so kostbar ist aber originäre Information.

Verstehen Sie beide unter originär und exklusiv dasselbe?

Ziesemer: Alles, was wirklich originär ist, können Sie prinzipiell auch exklusiv halten. Journalisten haben sich früher allerdings in die Tasche gelogen, indem sie dpa-Meldungen einfach ein wenig umgeschrieben und das als eigene, originäre Leistung verkauft haben. Das geht nicht mehr. Und das ist gut für den Journalismus.

Wegner: Es kann aber eine originäre journalistische Leistung sein, die Flut nicht exklusiver Informationen zu bewerten und zu filtern. Nehmen Sie die Millionen Infos zum Iran: diese auszuwählen und zu gewichten, ist originär, aber nicht exklusiv. Das Filtern wird in Zukunft eine der wichtigsten Aufgaben von Journalisten sein: Menschen werden dafür bezahlen, nicht jede verfügbare Information zu bekommen, sondern ausgewählte.

User Generated Content auswerten: Ist das die „Kernkompetenz“ der Medien von morgen?

Ziesemer: User Generated Content kann vor Ort funktionieren, im Lokaljournalismus. Nicht funktionieren wird es im Wirtschafts- und Finanzbereich. Da gilt die alte Mafia-Regel: Diejenigen, die wissen, reden nicht. Und diejenigen, die reden, wissen nichts. Verlässliche Berichte über Finanzen erfordern Fachwissen und harte Recherche, das kann Otto Normalbürger nicht leisten.

Wegner: Und doch ist User Generated Content für den Journalismus eine regelrechte Revolution. Sie verläuft allerdings anders, als sich das manche Controller ausgemalt hatten: das „Handelsblatt“ und „Focus“ Online werden auch künftig nicht kostenlos von den Usern vollgeschrieben, sondern von exzellenten Journalisten gemacht.

Mittlerweile sind viele Formen des User-Feedbacks aber ein natürlicher Teil unserer redaktionellen Arbeit. Allein bei „Focus Online“ haben wir unter unseren Artikeln in guten Monaten 90.000 Kommentare – die wir sehr ernst nehmen und wie Leserbriefe behandeln. Ein Team von zehn Kollegen kuratiert sie zum Großteil vor der Veröffentlichung.

Eine führende Medienmarke gibt den Nutzern ein Versprechen, das es täglich neu einzulösen gilt: Hier arbeiten kompetente Journalisten hart daran, Informationen zu recherchieren, zu filtern und aufzubereiten. Dazu gehört ein erheblicher Aufwand, den nicht jeder Blogger betreiben kann. Über solche Ressourcen verfügen zu können ist, nüchtern betrachtet, das entscheidende Qualitätsmerkmal von Journalismus.

Stattdessen wird aber derzeit überall entlassen und gespart, auch in Ihren Häusern. Klingt wie ein Rufen im dunklen Wald.

Wegner: Derzeit entwickelt sich, um das Bild aufzunehmen, eine Art paradoxer Medien-Urwald. Die wenigen Baumriesen werden die Krise dank schierer Reichweite abwettern. Zwischen ihren Wurzeln gedeihen tausende profitabler Nischen-Medien – vom Gadget- bis zum Gossip-Blog. Die mittleren Wald-Etagen aber sterben ab. Dort vegetieren die Me-too-Objekte, die keine eigene journalistische Vision besitzen. Sie haben keine kritische Reichweite, dafür aber die Infrastrukturkosten der Großen. Aber auch für die starken Marken gilt: Journalistische Medien müssen sich dringend neue Erlösquellen suchen. Und da sind auch Journalisten gefragt, wenn wir das nicht alleine den Betriebswirten überlassen wollen.

Ziesemer: Die mittelgroßen Konzerne in der deutschen Medienwelt, zwischen den globalen Konzernen und mittelständischen Medienhäusern, werden es schwer haben. Wir als Mittelständler versuchen, uns verwaltungstechnisch und organisatorisch so schlank aufzustellen, dass wir mit den Wert schaffenden Teilen unseres Verlages überleben können. Wir müssen sicher alle unsere Geschäftsmodelle in den nächsten Jahren noch weiter anpassen. Unsere starken Marken müssen aber auf jeden Fall eigenständig bleiben. An den Weg von Gruner+Jahr, eine Querschnittsredaktion für mehrere T
itel, glaube ich deshalb nicht.

Zu welchen Geschäftsmodellen raten Sie denn dann?

Wegner: Lassen Sie Beiboote zu Wasser! Das geht nicht nur im Netz. Schon heute verdienen viele Verlage mit exzellenten Kongressen Geld, oder mit hochwertigen Buch- und DVD-Editionen. Das geht in die richtige Richtung, solange sie ihre Marke hochhalten und nicht verramschen. Oder nehmen Sie unsere Arztbewertungsplattform Jameda. In derlei Mischkalkulationen wird die Zukunft von Medienmarken liegen. Sie werden sich auch von ihrem Substrat lösen – schon heute unterscheiden Rezipienten kaum zwischen Print und Online. Auch im journalistischen Alltag wird diese Trennung immer unwichtiger.

Ziesemer: Für Medien wie das „Handelsblatt“ wird Paid Content in den kommenden Jahren eine wichtige Rolle spielen. Wir haben zum Beispiel nie unsere Archive geöffnet, darüber sind wir heute froh. Unsere Archive vermarkten wir heute sehr erfolgreich. Wir haben außerdem gerade einen kostenpflichtigen Newsletter für Finanzberater entwickelt. Für ein Publikumsmedium taugt unser Weg aber nicht.

Wegner: Das sehe ich auch so: Für spezielle Zielgruppen ist Paid Content hervorragend geeignet, für Publikumsmedien rechnen sich eher die hohen Reichweiten, die sie nun einmal mit offenen Inhalten erzielen. Die Erlöse eines offenen Archivs sind für uns einfach höher als die eines geschlossenen, kostenpflichtigen.

Welchen Weg sehen Sie denn für regionale Zeitungen und Medien – zwischen hoher Reichweite und spitzer Zielgruppe?

Ziesemer: Ich kenne mich in den regionalen Medien nicht aus. Aber generell würde ich auch dort sagen: Nur wer originäre Inhalte produziert, kann den Medienbruch überleben.

Wegner: Erstaunlich viele regionale Online-Medien müssen zunächst einmal überhaupt einen Weg beschreiten – sie haben sich bis vor Kurzem allzu zaghaft ums Netz gekümmert und bei aller gebotenen Vorsicht und Sparsamkeit eher zu wenig in ihr Angebot investiert. Sichtbar investiert wurde bei wenigen: bei der Rheinischen Post etwa, beim Tagesspiegel, bei der „WAZ“ oder neuerdings beim „Hamburger Abendblatt“. Wer in seiner Region an der Spitze liegt, hat auch eine gute Chance auf ein tragfähiges Angebot.

Die Öffnung der Archive macht diese aber gleichzeitig zum Freiwild im Internet: Was würde Ihrer Meinung nach eine Leistungsschutzabgabe bringen, wie sie jetzt von den großen Verlagen gefordert wird?

Wegner: Die Leistungsschutzdebatte ist letztlich vor allem eine Diskussion über Google. Google hat im Netz zwei strategische Stellen des Journalismus besetzt: Reichweite und Erlöse. Google organisiert heute einerseits mehr als die Hälfte des Traffics journalistischer Websites und verwaltet andererseits einen erheblichen Anteil der Werbe-Umsätze im Netz. Das alles, ohne selbst in teuren und komplizierten Journalismus zu investieren. Das grenzt an Ausbeutung durch einen Monopolisten.

Ich finde die Debatte um ein Leistungsschutzrecht deshalb richtig – wir sollten aber nicht das Kind mit dem Bade ausschütten: Das Internet ist deswegen so erfolgreich, weil es möglich ist, frei auf freie Inhalte zu verlinken, ohne erst um Erlaubnis fragen zu müssen. Das Netz hat an dieser Stelle auch keinen „Geburtsfehler“. Das Internet hat sich nach einigem Hin und Her in den 90ern schlicht gegen geschlossene, kostenpflichtige Angebote wie AOL oder Compuserve durchgesetzt.

Ziesemer: Ich sehe die Diskussion ums Urheberrecht mit Freude. Verlinken ist in meinen Augen in Ordnung, klauen aber verboten. Wir müssen die Möglichkeit haben, gewisse Inhalte hinter Barrieren zu setzen. Die Entwicklung des modernen Kapitalismus war mit einem starken Urheberrecht verknüpft. Ohne Patente wäre wirtschaftliche Fortschritt nicht möglich gewesen. Wir dürfen das Geschäftsprinzip nicht erlauben, das Google verfolgt: Erst klau ich dir dein Auto, dann kannst du es zurückkaufen. Deshalb geht die Forderung nach einer Leistungsschutzabgabe in die richtige Richtung.

Sehen Sie im Micropayment wie bei iTunes, also ein paar Cent pro Artikel, eine Chance?

Wegner: Ein iTunes-Modell wird für die großen Publisher nicht funktionieren, eher eine Pauschal-Lösung. Was wäre, wenn Google die Anbieter von Inhalten in einem transparenten Verfahren an den Erlösen beteiligt? Auch, wenn das alleine den Journalismus nicht rettet – ich bin mir fast sicher, dass es dafür in zwei, drei Jahren eine Lösung geben wird.

Ziesemer: Das halte ich auch für dringend geboten. Ich bin froh, dass die romantische, man könnte auch sagen, anarchistische Phase des Internet vorbei ist, in der alles für alle kostenlos sein wollte. Jetzt stellen wir endlich die richtigen Fragen.

Sehen Sie optimistisch in die Zukunft?

Ziesemer: Na ja, eher realistisch. Die nächsten Jahre werden unglaublich schwer werden für die klassischen Medien und wer darauf keine Lust hat, sollte sich einen anderen Beruf suchen. Machen wir uns nichts vor: In zehn Jahren werden viele Zeitungen verschwunden sein. Die Branche ist in einem schwierigen Umgestaltungsprozess. Aber einige Zeitungen werden überleben, da bin ich mir ganz sicher. Alte Geschäftsmodelle werden durch neue kreative Geschäftsmodelle verdrängt. Die Basis für alles aber bleibt: Ohne professionelle Redaktionen, die mit großem Engagement und Berufsstolz arbeiten, geht es nicht. Deshalb glaube ich auch nicht an all die Modelle, die nur noch mit freien Journalisten arbeiten wollen. Gerade im Wirtschafts- und Finanzjournalismus, wo es ja schließlich bei jeder Meldung um viel Geld für Unternehmen und Anleger gehen kann, funktioniert das nicht. Verlässlichkeit entscheidet.

Wegner: Wir werden die ökonomische Basis des Journalismus in den nächsten zehn Jahren noch einmal neu erfinden müssen. Das wird auch gelingen – und zwar, wenn wir es nicht als selbstverständlich ansehen. Das vielleicht gefährlichste Argument dafür, dass hervorragender Journalismus einfach so weiter bestehen wird, ist, dass Demokratien ihn ja schließlich zum Überleben brauchen. Das ist zwar richtig, aber Journalismus ist so wenig gottgegeben wie die Demokratie selbst. Meine Sorge ist, dass wir zu lange dem Irrglauben aufsitzen, unsterblich zu sein. Unabhängiger Journalismus braucht nun mal ein starke ökonomische Basis – ich halte nichts von Plänen, ihn zur philantropischen Marotte von Milliardären zu degradieren oder direkt durch den Staat zu finanzieren. Zum Glück beginnen viele Journalisten nun, über ihren eigenen Beruf und seine Veränderungen nachzudenken, was in den letzten Jahren viel zu wenig der Fall war.

G+J-Chef Bernd Buchholz hat jüngst das Modell flexible Kleinstredaktion wie bei „brand eins“ mit einer Handvoll festangestellten Redakteuren und viele freien Autoren gelobt. Ist das ein Weg?

Ziesemer: Mal ehrlich, das ist doch nicht anderes als der Versuch, für Kostendrückerei und Abschaffung von Journalismus einen ideologischen Überbau zu errichten. Wenn Medien nicht mehr so bezahlen können, dass die Redakteure mit ihrem Gehalt ein bürgerliches Leben führen können, dann sollten diese Medien lieber untergehen. Qualitätsredaktionen brauchen Journalisten mit einem gewissen Selbstbewusstsein, dazu müssen sie ihnen eine gewisse ökonomische Sicherheit bieten. Wie bitte soll mein Finanzredakteur ein kritisches Interview mit Josef Ackermann führen, wenn er nicht weiß, wie er am Monatsanfang seine Miete bezahlen soll?

Und wie verträgt sich dieser Anspruch mit redaktionellen Specials, auch im „Handelsblatt“, die nur ein erkennbares Ziel haben: ein attraktives Anzeigenumfeld zu schaffen?

Ziesemer: Wenn wir unsere Glaubwürdigkeit verlieren, schießen wir uns selbst ins Knie. Wenn man sich den Spitzenplatz im Hotel-Ranking kaufen kann, ist dieses Geschäftsmodell tot. Und das jeweilige Medium gleich mit. Sie haben aber recht: In der Krise wächst der Druck auf die Redaktionen, das ist unbestritten.

Braucht die Medienbranche eine neue Ethik-Carta für den Journalismus und seine neuen Geschäftsmod
elle?

Wegner: Das würde ich sehr begrüßen. Gerade im Netz gibt es Werbeformen, die mit dem klassischen Instrumentarium einfach nicht zu fassen sind. Ist etwa eine erst im Moment der Publikation eingespielte Google-Anzeige, die einerseits nach dem Geschmack von Journalisten allzu perfekt zum Inhalt passt, andererseits aber weitab vom Einfluss einer Anzeigenabteilung oder gar einer Redaktion entsteht, nun in Ordnung oder nicht? Da besteht Diskussionsbedarf. Der Presserat ist hier noch nicht so weit, wie er vielleicht sein sollte.

Ziesemer: Ich würde mir die Diskussion mehr auf Chefredakteurs- und Redaktionsseite wünschen – mit dem Ziel, dass Medien ein klares Nein sagen zu solchen Angeboten. Wir sollten uns etwa auf einen Umgang mit der wachsenden Manipulations-Maschinerie von PR-Agenturen einigen.

Und wie steht es mit dem Manipulationsmöglichkeiten im Netz? Brauchen wir auch neue, branchenverbindliche Standards im Umgang zum Beispiel mit Twitter & Co?

Ziesemer: An den handwerklichen Standards hat sich nicht viel geändert. Qualitätsmedien sollten Recherche-Regeln haben. Beim „HB“ haben wir solche seit 2002, die unverändert gelten. Dazu gehört: Eine exklusive Information braucht mindestens zwei glaubhafte Quellen. Twitter ist keine Quelle, kann nur Anlass zur Recherche sein. Es geht schlicht um journalistische Sorgfalt. Beispiel Wikipedia: Man muss alles, was dort steht, gegenchecken.

Wegner: Da stimme ich zu. Manche tun so, als würden sich da journalistisch völlig neue Welten auftun. In Wahrheit gibt es durch jedes neue Online-Angebot einfach nur mehr Hinweise – und Journalisten müssen die Mechanik dieser Angebote verstehen. Früher hieß das mal Medienkompetenz. Wenn sie fehlt, verstellt das gelegentlich den Blick auf die kostbaren Bestandteile des User Generated Content.

Die da für Sie journalistisch wären?

Wegner: Für uns ist er eine sehr wertvolle Ergänzung. Früher hat die meisten Journalisten doch nicht wirklich interessiert, was die Leser denken. Das Internet hat diese Haltung verändert. Und, um ein aktuelles Beispiel zu nehmen: Die ganze Iran-Berichterstattung besteht doch zum großen Teil aus, wenn Sie so wollen, User Generated Content. Selbst Korrespondentenberichte im heutigen „Handelsblatt“ speisen sich daraus.

Ziesemer: Einspruch! Wenn eine Diktatur beschließt, die klassischen Medien auszuschließen, können wir wenig ausrichten und müssen auf andere Quellen zurückgreifen. Das haben wir in dem Beitrag transparent gemacht …

Wegner: … in dem ein Korrespondent, der aus Dubai über die Situation in Teheran berichtet, seinen Beitrag szenisch so beginnt, als wäre er vor Ort gewesen. Und erst später erklärt, dass er alle Informationen nur vom Hörensagen kennt. Das ist bei der „Tagesschau“ nicht anders: Dort sieht man dieser Tage viele Handy-Videos von Usern und einen Korrespondenten, der vor der immer gleichen Brücke verharrt. Ich finde das übrigens völlig in Ordnung, wir sollten nur nicht etwas anderes vorspiegeln und unsere Quellen nennen.

Was aber raten Sie nun den Kollegen, die von Medienkrise verunsichert sind und um die eigene Zukunft fürchten: Was sollte der Einzelne tun, um sich fit für die Zukunft zu machen?

Ziesemer: Sich konsequent weiterbilden. Gerade im Wirtschafts- und Finanzjournalismus ist das unerlässlich.

Wegner: Kollegen, die ihren Beruf mit Leidenschaft ausüben und in ihrem Fachgebiet exzellent sind, werden auch in nächster Zeit keine Probleme haben – das Werben um sie ist im vergangenen Jahr nach meinem Gefühl kein Deut schwächer geworden. Unabhängig davon glaube ich, dass alle Journalisten das Internet zum Teil ihrer beruflichen Neugierde machen sollten. Wenn sie verstehen, wie im Netz kommuniziert wird, etwa über Twitter, Facebook und Blogs, haben sie eine große Chance, mit ihren Lesern noch engeren Kontakt zu halten – und erschließen sich ganz nebenbei neue Wege, das eigene Informationsnetz zu erweitern.

Erschienen in Ausgabe 07+08/2009 in der Rubrik „Titel“ auf Seite 14 bis 15 Autor/en: Interview: Jochen Brenner, Annette Milz. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.