Diagnose

Haut auf diese Stadt! Wie sich Medien an Berlin abarbeiten

Vor einem Jahr machten die Chefredakteure von „Spiegel“, „Süddeutscher Zeitung“, „Geo“ und „Zeit“ einen Ausflug nach Berlin-Mitte und Prenzlauer Berg, und was sie dort sahen, gefiel ihnen gar nicht: zum Beispiel Menschen, die mit ihren Laptops im Café herumlungerten, anstatt ordentlich in Büros zu sitzen. Die gesunde Bionade tranken anstatt Weißbier, Rotwein oder Coca Cola. Junge Eltern, die ihren Kindern Holz- statt Plastikspielzeug schenkten und sich Gedanken über mehr Fahrradwege machten. Es gab sogar welche, die Smilys auf die Ampeln malten. Angewidert fuhren die Chefredakteure zurück in ihre Heimatstädte und gaben ihren Redaktionen die Weisung, den Lesern die ganze Verderbtheit in Berlin zu schildern.

Natürlich hat es diesen Ausflug nie gegeben, aber die Berichte über Berlin in deutschen Zeitungen und Zeitschriften lesen sich so, als fände er in regelmäßigen Abständen und Zusammensetzungen statt. Seit Jahren wird besonders über Mitte und Prenzlauer Berg in einem kulturpessimistischen Ton geschrieben, als gäbe es hier den Niedergang einer Gesellschaft zu besichtigen und nicht deren Erneuerung.

Erstaunlicherweise ist das ganze Land von einem Mentalitätswandel erfasst, der sich in einem bewussteren Konsum ausdrückt, in Gedanken zur Nachhaltigkeit. Die Menschen denken darüber nach, ob Produkte unter moralisch vertretbaren Umständen hergestellt werden und ob die Dinge, die man isst und trägt, auch gut sind für Mensch und Umwelt. Eigentlich herrscht Einigkeit, dass diese gesellschaftliche Entwicklung zu mehr politischem Bewusstsein nach Jahren der Spaßgesellschaft und Uneigentlichkeit eine ganz vernünftige ist. In Hamburg hat die von Burda geführte „Milchstrasse“ sogar versucht, mit „Ivy“ ein eigenes Magazin rund um den sogenannten green glamour zu stricken.

Umso komischer, dass die Medien in seltener Einmütigkeit genau über jene Biotope herfallen, wo dieser Wandel am ausgeprägtesten gelebt wird, und wo er sich u. a. in einer hohen Wahlbeteiligung und einer sehr hohen Zustimmung zu den Grünen niederschlägt. Hier aber, in Prenzlauer Berg und Mitte, mag man die neue Zeit, die man sonst allenthalben begrüßt, nicht dulden.

Man kann die gehässigen Artikel, die sich daran abarbeiten, dass es in Prenzlauer Berg mehr Bioläden als Aldi-Filialen gibt, schon gar nicht mehr zählen – und Woche für Woche kommen neue hinzu.

Da macht etwa das Magazin „Geo“ wie alle Jahre wieder ein Sonderheft zu Berlin und entblödet sich nicht nur, den Fernsehturm auf das Cover zu nehmen (damit wäre wohl jede G+J-Joumalistenschulklasse durchgefallen), sondern bietet den Lesern gleich mit dem ersten längeren Artikel ein typisches Berlin-Hasser-Stück, geschrieben von Henning Sußebach, der einst in Berlin lebte und nun glücklich in Schleswig Holstein wohnt. Und warum ist er weggezogen? Weil sich die Leute in Berlin, so Sußebach in GEO, nicht nur die Frage stellen, ob sie ein Ei essen, sondern ob es ein Bio-Ei ist oder nicht. Andere, so bemerkt er latent enttäuscht, würden darüber sinnieren, ob sie Ökostrom nehmen. Man könnte meinen, dass das alles sinnvolle Fragen sind, die man sich angesichts der nahenden Klimakatastrophe auch in Schleswig Holstein stellt – in Prenzlauer Berg aber, und nur hier, werden aus solchen Selbstverständlichkeiten Indizien für ein unerträgliches neues Bürgertum – oder, wie Sußebach meint, für neue Konventionen. Derselbe Autor hatte übrigens vor einigen Monaten schon in der ZEIT darüber geschrieben, welche Schande es sei, dass die Menschen in Prenzlauer Berg nur noch beim Bio kaufen anstatt bei einem türkischen Obsthändler, der konventionelles (also im Zweifel gespritztes) Obst anbietet. Menschen, die andernorts bewusste Konsumenten sind, werden in solchen vulgärsoziologischen Texten durch ihren bloßen Wohnsitz Prenzlauer Berg oder Mitte zu Ökospießern.

In den Artikeln über die neue Berliner Mitte wird so getan, als hätten die Menschen dort keine anderen Sorgen, als dass immer genügend Ökobrause im FCKW-freien Kühlschrank ist und genügend Holzspielzeug im Haus für die Kleinen. Mal abgesehen davon, dass einem in anderen gut behüteten Gegenden wie etwa in Hamburg-Blankenese oder Starnberg kein Strick daraus gedreht wird, wenn man nicht Hartz-IV empfängt –, mischt sich in dieser Textgattung eine fast ostalgisch anmutende Larmoyanz (die Sehnsucht nach ungesunden, aber als ehrlich empfundenen Produkten) mit dem Sozialneid der zur Ferndiagnostik gezwungenen Journalisten, die für ihre Regionalstädte den letzten Kampf gegen einen gefühlten Zentralismus zu führen scheinen. Berlin, das sind die anderen. Und wenn sie gar nicht anders sind, muss man sie zumindest beschreiben, als wären sie anders. Es ist ja auch eine Anmaßung, dass es den Menschen in Berlin-Mitte gelungen ist, ihre gute Laune trotz erhöhten Einkommens zu behalten. So was kennt man aus anderen Städten gar nicht.

Der „Spiegel“ schaffte es neulich sogar, in einer einzigen Ausgabe gleich in zwei Artikeln das Lebensgefühl in Berlin schlechtgelaunt madig zu machen. Da wird dann aus einer ganz normalen Altbau-Straße mit Cafés, Modeläden, Kindern und Touristen eine „Wohlfühlstraße“, und der ganze Prenzlauer Berg zu einem „Wohlfühlviertel“. Vielleicht wünschen sich solche Autoren auch in der deutschen Hauptstadt die Härte von Londoner Quartieren, wo Teenager erschossen werden oder zumindest die gepflegte Langeweile aus westdeutschen Reihenhausquartieren. Ansonsten sind im „Spiegel“ Gegenden mit hohem Grünwähleranteil mittlerweile pauschal „Bionade-Biotope“, in denen skandalöserweise geschaut wird, ob der Cappuccino aus Fair-Trade-Kaffee-gemacht wird. Auch, wenn man sonst nicht viel für die Ossis übrig hat, im Falle des Prenzlauer Bergs wird die Gentrification eines Viertels – also die Verdrängung der armen Urbevölkerung durch reichere Wessis – zum Sündenfall. Zu einer echten soziologischen Betrachtung mag man sich aber dann doch nicht aufraffen.

Eine Hochburg des Berlin-Hasses ist ja seit jeher die „Süddeutsche Zeitung“, wo Kurt Kister jahrelang gegen die neue Hauptstadt zu Felde zog, ehe man ihn in die Chefredaktion abzog (womit dann aber auch gleich mal die Durchschnittsqualität der Texte gehörig absackte). Neulich aber durfte dann Gustav Seibt über das Nachtleben in Berlin schreiben und die These vertreten, dass das Nachtleben in Berlin-Mitte out sei, weil es eben überall als „in“ beschrieben werde. Es sollte einem zu denken geben, wenn sich eine der wenigen intellektuellen „SZ“-Federn beim Thema Berlin auf das Dialektik-Niveau der Mediamarkt-Werbung begibt.

Das Komische ist, dass alle Zeitungen und Magazin ihre mittlerweile recht großen Berlin-Dependancen durchweg in Gegenden haben, die viel retortenhafter als der Prenzlauer Berg sind. Der „Spiegel“ etwa residiert am kaputtsanierten Pariser Platz mit Blumenrabatten vor der Tür, die „SZ“ sitzt im selben Haus wie das Borchardt, dem Epizentrum des Promi- und Schnitzelhypes und der G+J-Besitzer Bertelsmann hat sich Unter den Linden eine Art Pappmaché-Kommandantur gebaut. Vielleicht sollten all diese Redaktionen mal nach Prenzlauer Berg ziehen und sich bei einer Bionade locker machen. Selbst auf die Gefahr hin, dass man danach von den Kollegen als unechter Gutmensch bespöttelt wird.

Dr. Med. wohnt seit zehn Jahren am Prenzlauer Berg und hat sein Büro in Berlin-Mitte.

Erschienen in Ausgabe 07+08/2009 in der Rubrik „Rubriken“ auf Seite 80 bis 81. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.