Fangen Sie endlich an!

Twittern ist etwas für Leute, die zu viel Zeit haben? Und Sie haben dafür keine Zeit? Vergessen Sie das. Und fangen Sie endlich an zu twittern. Warum? Twitter und Journalismus, das ist ein Traumpaar. Ausbildung und Beruf machen uns zu idealen Twitterern. Wir Journalisten haben eine spannende Arbeit, erleben viel, sind Entwicklungen nah. Wir haben Informationen früher, wir beobachten gut, bewerten klar. Und wir sind darin geschult, in Kürze viel sagen zu können. Ein Tweet, das ist die quirlige Nichte von Tante Überschrift. „Wir haben mehr als viele andere zu sagen – und wir können es auch in 140 Zeichen besser als viele andere formulieren.“ (119 Anschläge)

Die Journalisten und Zeitungen, die Twitter deshalb offensiv, unverkrampft und experimentierend nutzen, fragen schon lange nicht mehr, ob sich Twittern lohnt: Jeder Tag mit Tweets liefert den Twitter-Pionieren an deutschen Desks digitale Belege für den Zweck ihrer Zwitscherei. Auch für die „Rhein-Zeitung“, die seit Februar engagiert twittert, hat sich das neue Instrument zu einer multifunktionalen Wunderwaffe entwickelt.

Twitter wirkt am Lesermarkt: Wir machen mit Tweets unsere Planungen, Stände, Entwicklungen, Umbauten, Neuigkeiten, Optiken, Debatten, Konzepte transparent, gerne Gelungenes, auch Misslungenes. Wir öffnen, bewusst mit mehreren Accounts mit unterschiedlichen Ansätzen, virtuell die Tür zu RZ-Print und RZ-Online – vom Hochfahren der Rechner am Morgen bis zum Schichtende des Schlussdienstes nach Mitternacht. Immer mehr Print-Abonnenten „followen“ uns dabei, viele kommunizieren mit uns via Twitter, etwa so: „Seit ich Sie per Twitter verfolge, lese ich die, Rhein-Zeitung’ mit ganz anderen Augen.“

Twitter wirkt in verloren geglaubten Milieus: Wegen unserer Twitterei interessieren sich plötzlich Dutzende jüngerer Menschen aus dem RZ-Land für uns, denen wir vorher offenbar keinen Andockpunkt geboten haben. Typische Vertreter der „Generation C 64“ folgen uns, lesen unsere Tweets, antworten darauf, entdecken unseren Online-Auftritt für sich – und kaufen bisweilen sogar Print. Die „Digital natives“ merken, dass auch die Leute vom Analog-Medium Zeitung kreativ sind, dass auch unsere Produkte schnell und nützlich, frisch und frech sein können. Aus diesen Kreisen kamen sogar schon erste Abo-Scheine – „wegen Ihrer Twitterei“.

Twitter wirkt in unserem Online-Auftritt klar messbar: Wenn wir via Twitter Links zu Internet-affinen, stark diskutierten oder regional relevanten Inhalten auf „rhein-zeitung.de“ verbreiten, schnellen dort die Klicks oft sprunghaft in die Höhe. Teils verzehnfacht sich so die Lesequote eigener Internet-Texte – weil „gute“ Tweets zu „guten“ Inhalten von Dutzenden Twitterern an deren Follower weitergeleitet werden.

Twitter wirkt aber auch in der Redaktion: Wer Twitter an der richtigen Stelle von den richtigen Redakteuren scannen lässt, bekommt gratis Anregungen für Themen, schöpft leicht ein pralles Meinungsbild etwa zu „DSDS“ ab, kann Umfragen mit minimalem Aufwand umsetzen, stößt auf echte Storys. Für Produktionsredakteure sind Tweets oft journalistische Gymnastik. Der Chefredakteur kann die Branche via Twitter ohne „Turi“, „Kress“ & Co wissen lassen, wie sich sein Medienhaus entwickelt. Und er verfügt über ein Diagnose-Wunder: Wer Twitter nicht auf einen Beauftragten verinselt, sondern im gesamten Team etabliert, merkt rasch, wie zukunftsoffen die Redaktion ist. Twitter, das ist ein hellblauer Lackmus-Test für die Web 2.0-Affinität von Journalisten. Auch deshalb pflegen alle 17 Volontäre der „Rhein-Zeitung“ gemeinsam einen Twitter-Account – auf Chef-Geheiß, aber in eigener Regie.

All das aber überstrahlt die wuchtigste Wirk-Dimension: Twitter offenbart uns das Internet. Wechselweise können wir damit das Netz aus einer Raumkapsel-Perspektive sondieren – und uns im nächsten Moment mitten ins Getümmel der Schwarmintelligenz werfen. Wir sehen Tiefe und Breite des Internets, sein Tempo und Treiben, seine Klugheit und Grobheit, seine Risiken und Chancen, seine Kraft und Macht, seine Autarkie von Medien wie seine Affinität zu Medien. Effizienter als mit Twitter können Medienmacher das Internet heute nicht beobachten, begreifen und benutzen. „Wer als Medienmensch nicht twittert, wird die Zeichen der Zeit nicht verstehen. Und das Internet fliegt ihm davon.“ (121 Zeichen)

Erschienen in Ausgabe 07+08/2009 in der Rubrik „Standpunkt“ auf Seite 51 bis 51 Autor/en: Christian Lindner. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.