Diagnose

Gebt endlich Wahlempfehlungen! Der Wahlkampf wäre nicht so langweilig, wenn die Medien wüssten, wo sie stehen

Totale Langeweile herrsche in Deutschland, wunderte sich unlängst die „International Herald Tribune“ über den diesjährigen Wahlkampf, in dem zehn Mal mehr Zuschauer die Wettkämpfe bei der Leichtathletik-WM verfolgen als ein Duell zwischen Kanzlerin Angela Merkel und ihrem Herausforderer Frank-Walter Steinmeier. Durch die Große Koalition seien die Unterschiede zwischen den Parteien abgeschliffen, wobei es vor allem Steinmeier schwer falle, sich nachvollziehbar abzusetzen von der Kanzlerin, die ihrerseits eine Art tödlicher Umarmung pflege. Zudem, so die Diagnose der englischen Kollegen, stünde den Deutschen mitten in der Wirtschaftskrise nicht gerade der Sinn nach einem Wechsel des Amtsinhabers.

Man kann nicht umhin, der Ferndiagnose aus London beizupflichten – so ohne jede Emphase war selten ein Wahlkampf – auf Seiten der Politiker, der Wähler, aber leider auch der Medien, die unter dem Strich ein „weiter so“ zu begrüßen scheinen. Obwohl es das ja im Falle von erdrutschartigen 20 Prozent für Steinmeier gar nicht geben wird. Aber eine Analyse, wie viel von der sozialdemokratischen Merkel unter Schwarz-Gelb noch übrig bleibt, suchte man in den vergangenen Wochen vergebens. Und das ist ja das Paradoxe: Als Helmut Kohl Helmut Schmidt ablöste, da wurde von einer geistig-moralischen Wende gesprochen, als Schröder auf Kohl folgte, sahen die Medien einen eklatanten Wertewandel für das Land voraus – aber in diesen Tagen, wo eine Große Koalition, die eher links als rechts der Mitte zu verorten ist, kurz vor der Ablösung durch eine CDU/FDP-Regierung steht, herrscht allgemeine Stille. Man muss sich ja nicht vor diesem Modell fürchten, man könnte damit je nach politischem Gusto ja auch auch Hoffnungen verbinden – aber stattdessen herrscht in den Medien eine Art Paralyse, was die politische Einordnung eines solchen Wandels anbelangt. Dabei gäbe es durchaus genügend zu hinterfragen: Werden die Sozialsysteme unter Mitwirkung der FDP weiter ächzen, wie viel von einer ökologischen Landwirtschaft werden CDU/CSU rückgängig machen, bedeutet ein Ausstieg aus dem Atomausstieg womöglich das Ende der deutschen Vorherrschaft im Technologie-Sektor der regenerativen Energien, und ist die FDP womöglich ein Garant für ein unzensiertes Internet, von dessen Gegenteil Wolfgang Schäuble zu träumen scheint?

Die strikte Weigerung der deutschen Medien, keine Wahlempfehlung auszusprechen, wie es eben amerikanische Zeitungen wie die „New York Times“ oder die „Washington Post“ machen, wird immer gern als Unabhängigkeit ausgegeben – es ist aber ebenso gut eine willkommene Entschuldigung dafür, keine klare Aussagen zu treffen und den Lesern Orientierung zu verweigern.

Vielleicht ist das aber auch zu viel verlangt, zumindest kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Orientierung genau das ist, was die Journalisten selbst nicht haben: „Die Krise kommt erst noch“, „Die Krise ist vorbei“, „Die Krise erreicht erst nächstes Jahr ihren Höhepunkt “, „Die Krise ist nicht vorbei“ – das sind vier Überschriften aus der überregionalen Presse, die innerhalb von wenigen Wochen gedruckt wurden – das wirkt nicht so, als wüsste man, wovon man redet. Also verlegt man sich lieber auf die Rezension des Augenscheins: So wie der „Stern“, der den Wirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg in einer affirmativen Story zu einer Art „sexyest minister alive“ hochjazzt und damit all jenen Wählern entgegenkommt, die ihre Entscheidung statt von Inhalten lieber davon abhängig machen, welcher Kandidat der langweiligere ist. Diese unpolitischen geschmäcklerischen Bürger werden auch gut von der „Welt am Sonntag“ bedient, für die Benjamin Stuckrad-Barre den SPD-Kanzlerkandidaten begleiten durfte und außer Häme wenig mit zurückbrachte – zumindest keine politischen Einsichten. Der Boulevard delektierte sich derweil an Ulla Schmidts Reisen mit dem Dienstwagen, natürlich weitgehend ohne auf ihre Verdienste als Gesundheitsministerin einzugehen, die ihr selbst von der CDU bescheinigt werden – und passend dazu schnappen erstaunlich viele seriöse Zeitungen nach der Politik-Satire von Horst Schlämmer alias Hape Kerkeling oder Martin Sonneborn, um ihre Seiten zu füllen.

Einzig der „Spiegel“ versuchte es hin und wieder noch mal mit Inhalten und präsentierte etwa einen Titel zur Abwrackprämie, dessen Aufmachung nahelegte, dass die ganze Aktion völliger Schrott ist, der aber erstaunlicherweise zu dem Fazit kam, dass die Prämie sowohl ökologisch als auch ökonomisch durchaus Sinn macht. Aber so eine Position auf dem Titel zu vertreten, hätte wohl die grassierende Indifferenz zu sehr gestört.

Nach diesem Wahlkampf und der sich so nennenden Wahlkampfberichterstattung kann man nur zu einem Fazit kommen: Die Zeitungen und Magazine sollten in Zukunft Wahlempfehlungen geben – nicht, um dem Wähler ihren Willen aufzuzwingen, sondern um sich selbst darüber klar zu werden, ob sie überhaupt einen Willen haben und wenn ja, welchen.

Erschienen in Ausgabe 09/2009 in der Rubrik „Rubriken“ auf Seite 64 bis 65. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.