Kurswahl

So also mobilisiert man die Wähler: Über 54.000 Fans verzeichnet Kandidat Schlämmer auf seiner Facebook-Seite, 7.600 Follower bei Twitter und 70.000 Abrufe seiner Videos auf dem eigenen HSP-youtube-Kanal. Zum Vergleich: Kanzlerin Merkel hat 15.600 Fans bei Facebook und ihr Herausforderer Steinmeier nur knapp 5.900 (Stand: 4. September). Und sogar 18 Prozent aller 18-29 Jährigen würden Horst Schlämmer ihre Stimme geben, ermittelte der „stern“ Mitte August.

All das wäre eigentlich nicht weiter der Rede wert. Von einem Film wie „Isch kandidiere“ und Hape Kerkelings Kunstfigur „Horst Schlämmer“ hängt nun wirklich nicht das Wohl & Wehe dieser Republik ab. Es gibt schließlich wichtigere Themen, erst recht kurz vor der Bundestagswahl. Wie zum Beispiel Ulla Schmidts Dienstwagen-Klau oder Josef Ackermanns Party im Kanzleramt.

Wir haben uns bei Medienmachern umgehört, wie sie den „Schlämmer-Effekt“, das Infotainment in der politischen Berichterstattung einschätzen. Das Ergebnis zeigt eine bemerkenswerte Polarisierung in Befürworter und Gegner (s. Seite 14 f.). Doch ob man das Ganze nun als „Genuss“ (Thomas Satinsky, „Südkurier“) oder „Klamauk“ (Jürgen Metkemeyer, „Pforzheimer Zeitung“) betrachtet: Interessant bleiben, auch nach dem Hype um den Film, die Mechanismen, mit denen Medienprofi Hape Kerkeling als Grevenbroicher Lokaljournalist „Schlämmer“ meisterhaft spielt – eben Kommunikation auf allen Kanälen von TV bis Twitter.

„Lernen kann man da höchstens, wie man sich verkauft“, meint Thomas Hauser, „Badische Zeitung“. Nun, das wäre ja nicht das Schlechteste in diesem Tagen. Aber eben nicht zu jedem Preis.

Was also ist aus dem vielbeschworenen Wahlkampf 2.0 hierzulande geworden? Wie wollen politische Parteien und Medien in diesem Wahlkampf 2009 die Menschen erreichen, und wie gelingt es ihnen – oder eben nicht? Diesen Fragen haben wir einen Politik-Schwerpunkt in dieser Ausgabe gewidmet (ab S. 14 ff.).

Antworten darauf finden Sie auch in unserem Online-Special zum Thema Wahlen ´09 mit detaillierten Informationen zu redaktionellen Konzepten: www.mediummagazin.de.

Eine andere, und es steht zu befürchten politische, Entscheidung steht erst nach den Bundestagswahlen an: die Frage, ob Nikolaus Brender im nächsten Jahr Chefredakteur des ZDF bleibt oder nicht. Im vergangenen März konnte Intendant Markus Schächter seinen Vorschlag zur Verlängerung des Vertrags mit Brender um weitere fünf Jahre nicht durchsetzen, vor allem, weil Ministerpräsident Roland Koch als Mitglied des ZDF-Verwaltungsrat dagegen opponierte. Vordergründig wurde damals die Entscheidung vertagt mit dem Argument, man wolle nun ein Gutachten abwarten, das klären soll, welche Rechte die Gremien bei der Entscheidung über die Besetzung der redaktionellen Führungspositionen im ZDF tatsächlich haben.

Der Eklat um die kaum verhüllte politische Intervention von Roland Koch gegen den offenkundig in seinen Augen missliebigen Chefredakteur belastet eine objekte Auseinandersetzung mit den Leistungen von Nikolaus Brender in den bald zehn jahren seiner bisherigen Amtszeit.

Es kann und darf aber keinen Zweifel daran geben, dass eine politisch motivierte Einflussnahme auf den Chefposten im ZDF inakzeptabel ist. Das gilt auch dann, wenn der Blick auf die Bilanz ein kritischer ist (siehe Seite 44 f.). Es gibt einige Entwicklungen im ZDF, die kein uneingeschränktes Lob verdienen. Kritik am dafür verantwortlichen Chefredakteur muss möglich sein, darf jedoch nicht instrumentalisiert werden gegen journalistische Unabhängigkeit – wie sie Nikolaus Brender immer wieder vorbildlich gezeigt hat.

Zu Recht erhält er deshalb am 14. Oktober den Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis „für seine vorbildhafte journalistische Haltung“, so die Jury. In der Begründung heisst es u. a.: „Nikolaus Brender steht für Qualität und Unabhängigkeit und setzt sie auch gegen Widerstände durch. Er ist nur seiner journalistischen Aufgabe verpflichtet. Brender lässt sich von niemandem vereinnahmen.“

Wer auch immer ihm nachfolgen wird, im Jahr 2010 oder später: Er oder sie muss zuerst an diesem Maßstab gemessen werden. Egal, zu welchem Ergebnis das juristische Gutachten im Herbst kommen wird.

Annette Milz

Erschienen in Ausgabe 09/2009 in der Rubrik „Editorial“ auf Seite 3 bis 5. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.