Schlimme Sehnsucht

Spätestens alle vier Jahre wird das Volk der Dichter und Denker von einer Sehnsucht überfallen. Plötzlich soll Deutschland keine Republik mehr sein, die nach dem Bonner Grundgesetz funktioniert mit all ihren politischen Polsterungen, ihren runden Tischen, ihrer Sehnsucht nach Konsens und ihren Parteien, die nur Parteien kennen und keine Persönlichkeiten. Nein, jetzt muss eine ordentliche Kampfdemokratie her, ein System der starken Frauen und Männer, am besten ein Obama-Präsidenten-Westminster-System mit Gewinnern und Verlierern und knackigen Hauptdarstellern. Dann wäre die Politik plötzlich einfach und spannend, und die Talkshows wären wieder unterhaltsam.

Kawumm! Deutschland hat aber kein Obama-Präsidenten-Westminster-System. Die gute alte Bundesrepublik funktioniert nach den guten alten Regeln, die in der Präparaten-Sammlung des Museums König in Bonn beschlossen wurden. Und mit dem politischen System verhält es sich nun mal wie im TierPräparate-Museum: Wer einen Elefanten ausstopft, der kriegt nicht plötzlich einen Haifisch auf den Tisch. Wer einen Kanzler wählen will, der kann nicht so tun, als habe er den französischen Präsidentschaftskandidaten vor sich oder gar Barack Obama.

Die Einsicht in diese Begrenztheit ist freilich nicht gerade verbreitet. Der Bundestagswahlkampf 2009 ist ein ganz schlimmer Sehnsuchts-Wahlkampf. Selten haben sich die politische Klasse und die Kampfrichter in den Medien derart verzehrt nach mehr Spannung und Unterhaltung. Wann also könnte er kommen, der große Kawumm? Worüber könnte man streiten? Könnten wir nicht auch mal endlich einen Obama kriegen?

Die Antwort fürs deutsche Wahlvolk: No, you can´t. Vergesst eure Sehnsucht; vergesst, dass Politik hierzulande Spannung erzeugen kann. Politik in Deutschland ist vor allem anstrengend und zäh, wofür es ein paar triftige Gründe gibt:

Erstens: das System. Eine Parteiendemokratie kennt keine Obamas, die binnen fünf Jahren aus dem Nichts an die Spitze des Staates kommen, siehe oben. Die Parteiendemokratie kennt die Mühsal der Ebene, den undurchdringlichen Funktionärsapparat, das Hinterzimmer. Die Kunst der freien Rede entscheidet nicht über einen freien Listenplatz. Ausnahme: der Wirtschaftsminister. Das Guttenberg-Phänomen begeistert ja gerade deshalb, weil der Mann alle Konventionen sprengte. Deswegen wollte die Nach-Stoiber-CSU den jungen Bundestagsabgeordneten auch vertreiben von seinem sicheren Platz mit Hilfe einer Wahlkreisreform. Guttenberg überlebte nur, weil er die Flucht nach vorne antrat und – gegen alle Parteiregeln – den Bezirksvorsitz kaperte.

Zweitens: die Themen. Die Entscheidung über die Zusammensetzung des nächsten Bundestags ist keine Schicksalswahl. Weder ist die Demokratie gefährdet noch ist das Land einer existenziellen Bedrohung ausgesetzt. Es geht um soziale Gerechtigkeit und wohl auch recht viel Arbeitslosigkeit. Es geht um ein paar Reförmchen und auch ein bisschen Weltpolitik, etwa in Afghanistan. Aber Deutschland ist nicht Amerika, wo ein Präsident Bush die Nation politisch ausgehungert hatte mit zwei Kriegen und einer gewaltigen Wirtschaftskrise. Deutschland ist auch nicht Moldawien, wo eine Wahl eine korrupte und autoritäre Einparteien-Herrschaft beenden konnte. In Deutschland herrscht also so etwas wie wohlige Genügsamkeit. Die Spannung ist aus der Politik gewichen.

Drittens: die politische Berichterstattung. Wenn die Medien nicht nur die Welt widerspiegeln, über die sie schreiben, wenn sie auch beitragen zur politischen Grundspannung im Land, dann haben sie sich ein Stück weit selbst die langweiligen Verhältnisse geschaffen, die nun allenthalben beklagt werden. Selbst in Deutschland kann der Politik ihre spannende Seite abgewonnen werden, auch wenn es mühsam ist, über die Parallelgesellschaft in Neukölln zu recherchieren oder den Bafin-Beamten, der alleine gegen die Großkanzleien der Welt für Bankentransparenz kämpft, oder den Sicherheitspolitiker, der gerade mit den Amerikanern einen heftigen Streit um die nächste Nato-Strategie ausficht. Parallelgesellschaften sind wichtig, Bankenaufsicht und Nato-Strategie ebenfalls. Aber sie haben keine Chance, solange Horst Schlämmer und Dienstwägen und Schnitzel mit Spargel im Kanzleramt wichtiger sind. Das ist politisches fast food, Talkshowmaterial – leichter zu konsumieren, Polit-Berieselung.

In den Talkshows spielen sie Politik in der immer gleichen B-Besetzung, wechselweise zu den Themen Gesundheit, Rente oder Aufschwung. „Spiegel online“ führt die Rubrik Panorama schon vor Politik, als wäre Politik eine Zumutung. Aber genau das müssen Politik und die politische Berichterstattung sein: eine Zumutung. Schlämmer ist Krawall, Klamauk. Zur richtigen Politik aber und der Berichterstattung darüber braucht es Mut. Mut, die Langweile zu brechen, die Gehirnwindungen zu fordern, die Mühsal der Politik weiterzugeben an die Leser und die Zuschauer. Mut ist eine Eigenschaft, die man dem Minister zu Guttenberg allenthalben zuschreibt. Erfolg scheint er ja damit zu haben.

Erschienen in Ausgabe 09/2009 in der Rubrik „Politik“ auf Seite 20 bis 21 Autor/en: Stefan Kornelius. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.