Verzicht als Chance

Nein, sterben wird die gedruckte Zeitung nicht. Aber seltener werden. Überleben kann sie vermutlich nur, wenn sie eins von beiden schafft: nicht mehr täglich zu erscheinen – oder mit einer drastisch geschrumpften Auflage zurechtzukommen. Gelingt ihr das, so wird der Medien-Tycoon Rupert Murdoch widerlegt sein („In 20 Jahren wird kein Papier mehr bedruckt“) und Jakob Augstein ebenso („Ich wüsste nicht, warum es die „Süddeutsche Zeitung“ in 20 Jahren noch geben soll“).

Bedroht, gewiss, ist die Zeitung aufs äußerste. Dass ihr die Anzeigen davonlaufen, aus denen sie sich durchschnittlich zu 50 Prozent finanziert, ist nur die eine Seite der Misere: „Das Geschäftsmodell Zeitung, das ganze Familienstämme komfortabel ernährt hat, funktioniert nicht mehr“, schrieb Hans-Werner Kilz, der Chefredakteur der „Süddeutschen Zeitung“, 2009 anzüglich im „SZ-Magazin“.

Aber auch die Leser laufen ihr davon. Die Zeitung erreicht nur noch 58 Prozent der erwachsenen Deutschen und nur noch 40 Prozent der 14- bis 29-Jährigen (gegen 66 Prozent vor zwanzig Jahren). Von denen informieren sich 73 Prozent primär via Internet. Die Zeitung gehört für sie zu den „Holzmedien“.

Nun trösten sich viele Zeitungsmacher mit dem sogenannten Rieplschen Gesetz (aufgestellt 1913 von Wolfgang Riepl, dem Chefredakteur der „Nürnberger Zeitung“): Kein neues Medium habe das alte je verdrängt, sondern allenfalls den Anwendungsbereich verschoben. In der Tat: Das Radio hat die Zeitung nicht ersetzt und das Fernsehen nicht das Radio. Doch das Gegenteil ist auch wahr: Das Telegramm ist fast ausgestorben, das Fax nur noch für solche Texte in Gebrauch, die einer Unterschrift bedürfen; die Schreibmaschine ein Fossil.

Trost kommt eher von den Vorzügen, die die Zeitung unstreitig behalten hat. Der eine ist ihre Glaubwürdigkeit: Mit der ist sie bisher dem Fernsehen deutlich, dem Internet dramatisch überlegen. Bei sich widersprechenden Aussagen glauben selbst die, von den Internet-begeisterten 14- bis 29-Jährigen nur 13 Prozent dem Internet, 31 Prozent dem Fernsehen, aber 48 Prozent der Zeitung (so die „FAZ“, 27.12.08).

Gerade die Glaubwürdigkeit jedoch ist in Gefahr: In den ausgedünnten Redaktionen wächst notgedrungen die Bereitschaft, die Pressemitteilungen von Unternehmen, Parteien, Verbänden, Behörden ungeprüft und unverändert abzudrucken – Texte also, die tendenziell ein höheres Ziel als die ungeschminkte Wahrheit haben; und inzwischen gibt es in Deutschland mehr als doppelt so viele Öffentlichkeitsarbeiter wie Journalisten.

Von anderen Vorzügen der Zeitung ist nicht so sicher, ob die Mehrheit der Deutschen noch von ihnen Gebrauch zu machen wünscht. Unter dem Info-Müll, unter dem hirnrissigen Überangebot an richtigen, falschen und läppischen Informationen muss man ja leiden, um die Zeitung als den großen Schrott-Entsorger zu begrüßen, der sie ist. Man muss es mögen, mit interessanten Themen konfrontiert zu werden, nach denen man nie gesucht hätte. Man muss bereit sein, über die Schweinegrippe zu lesen, dass sie eine beruhigend harmlose Form der Grippe ist: An der sterben in Deutschland 18 000 Menschen im Jahr – an der von den Schweinen ist bisher keiner gestorben (was in diesen Wochen täglich in der Zeitung stehen sollte – eine „sommerlochtypische Medienhysterie“, sagt der „Spiegel“.)

Auch dem seriösen Online-Journalismus hat die Zeitung voraus, dass sie den Nachrichtenfluss portioniert, dass sie als Befreiung aus dem unerbittlichen Fließband der Informationen empfunden werden kann: Jetzt habe ich sie gelesen, und für die nächsten 23 Stunden genügt mir das – verpassen werde ich nichts. Auch verschafft die Zeitung mir in Glossen, Reportagen, Analysen oft ein Lesevergnügen, mit dem kein Computer mithalten kann.

Viele Redaktionen machen seit Jahren klugen Gebrauch von dieser ungeheuren Chance, nun freilich von den Sparmaßnahmen mehr und mehr bedrängt; andere liefern lieblose Routine wie eh und je: Sie drucken Agenturtexte und Verlautbarungen ab, und ihr Aufmacher ist oft genug identisch mit der ersten Nachricht der „Tagesschau“ vom Abend zuvor – noch dazu einer Sendung, die manchmal „aus lauter mittelmäßigen Themen auswählen muss, was das am wenigsten schwache ist“, wie ihr Chefredakteur Kai Gniffke kürzlich im „Spiegel“ eingestand. Mit Nachrichten, auch mit starken, kann die Tageszeitung nicht überleben; sie muss nachholen, was „Spiegel“ und „Stern“ seit 60 Jahren wissen: Verkaufen lassen sich nur selbst gesetzte Themen – Analyse, Reportage, Recherche. „Wir haben zu viele schlechte Zeitungen“, sagte 2008 Sven Gösmann, der Chefredakteur der „Rheinischen Post“. „Viele agieren arrogant an ihren Lesern vorbei.“

Nehmen wir nun aber den Fall, dass eine Zeitung alles richtig macht: dass sie die Interessen ihrer Leser liebevoll bedient und der Kurzatmigkeit des Internet die gut abgehangene Information entgegensetzt, mit Lesevergnügen angereichert – dann hat sie trotzdem ein Problem, das sich mit aller Qualität der Welt nicht lösen lässt.

Denn unaufhörlich sinkt die Zahl der Menschen, die noch bereit sind, mehr als die Häppchen, die Fetzen zu lesen, die sie vom Computer gewöhnt sind – sich also vier, sechs, acht Minuten auf die Lektüre eines Textes einzlassen, wie brillant er auch geschrieben wäre.

Und in ähnlichem Tempo wächst die Zahl der jungen Leute, „die gar keine umfassenden, sondern nur sie betreffende Informationen suchen“, schreibt die „Frankfurter Rundschau“. Von denen wünschen sich gar nur 15 Prozent noch aktuelle Rundum-Information (Allensbach 2008). Unter „gut informiert sein“ verstehen sie, „dass sie wissen, was ihre Freunde im Netz gut finden“ („Süddeutsche Zeitung“).

Zusammengenommen bedeutet das: Die Ära, in der man von einer gut gemachten Zeitung sechs Mal in der Woche mehrere hunderttausend Exemplare verkaufen konnte, geht ihrem Ende zu. Unter der Minderheit derer, die noch redlich informiert werden wollen, sind viele zufrieden mit dem, was sie den guten unter den Online-Diensten aktuell entnehmen können – umso mehr, als viele Zeitungen gerade ihre besten Artikel kostenlos im Netz anbieten. Man braucht sich also nicht zu wundern: Das Bedürfnis, sich für gutes Geld Tag für Tag zusätzlich mit einem Bündel raschelnden Papiers zu umgeben, nimmt ab.

Eine häufige und einleuchtende Prognose lautet daher: Die besten Überlebenschancen haben einerseits die aktuellen Wochenzeitungen und Magazine (wie „Spiegel“, „Stern“, „Focus“, „Zeit“, „FAS“ und „WamS“): Vertiefende Information ein Mal in der Woche – das könnte als Wunsch einer starken Minderheit am Leben bleiben; andererseits Zeitschriften, die ein Lebensgefühl einfangen oder ein Spezialinteresse gescheit und opulent bedienen.

Die Zeitungen aber werden sich umstellen müssen. In den ersten Jahren nach 1945 erschienen sie zwei Mal wöchentlich, weil es mehr Papier nicht gab; doch behielt die sehr angesehene Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung dieses Intervall in den fünfziger Jahren bei. Mit einer Stärkung ihrer Wochenend-Ausgaben könnten die Tageszeitungen sich an die Marktchancen für weniger als sechs Ausgaben pro Woche herantasten.

Ihre andere Überlebenschance wäre, sich beizeiten auf das Unvermeidliche einzustellen: Dass unsere besten Zeitungen seit Jahrzehnten mehrere hunderttausend Stück verkaufen können, war ein Novum in der Zeitungsgeschichte. Die „Kölnische Zeitung“, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Deutschlands führendes „Intelligenzblatt“ galt, und die „Frankfurter Zeitung“, Deutschlands angesehenste zwischen den Weltkriegen, blieben immer unter hunderttausend. „Ich glaube, wir werden in der Zukunft zurückschrumpfen,
langfristig“, sagte Alfred Neven-DuMont, Verleger mehrerer respektabler Zeitungen, 2009 der „Süddeutschen“. „Wir werden uns zum Teil elitär zurückentwickeln. Wir müssen besser werden, teurer werden.“

Teurer werden – das wäre einer von drei Wegen, wie sich eine Zeitung über Wasser halten könnte, wenn sie ihre Auflage dritteln müsste. Wahrscheinlich wären die Wissensdurstigen und die Elite der Informationsgesellschaft durchaus bereit, mehr zu bezahlen. Der zweite Weg: Ein wohlhabender Verleger hat den Wunsch, sich ein Spitzenprodukt etwas kosten zu lassen – wie Gerd Bucerius jahrzehntelang die „Zeit“ mit den Millionen finanzierte, die er durch den „Stern“ verdiente, und Axel Springer die „Welt“ durchfütterte mit den Überschüssen der „Bild-Zeitung“.

Der dritte Weg ist die Stiftung: Die „FAZ“ wird von einer solchen getragen, und jedem Großkonzern, jedem Milliardär steht es offen, eine prominente Zeitung zu adoptieren.

Denn das Intelligenzblatt brauchen wir – die große Zeitung, die die beiden größten Tugenden des Journalismus möglichst Tag für Tag wach hält: den Mächtigen auf die Finger zu sehen und unseren schwierigen Planeten fair und unaufgeregt so abzubilden, wie er ist.

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Zur Person

Wolf Schneider (84), Honorarprofessor der Universität Salzburg, ist Kolumnist der „Neuen Zürcher Zeitung“, Ausbilder an fünf Journalistenschulen und Lehrer für lesbares Deutsch in Wirtschaft, Medien und Behörden, zudem seit April auch Videoblogger („Speak schneider“, www.sueddeutsche.de/schneider). Er war Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“ in Washington, Verlagsleiter des „Stern“, Chefredakteur der „Welt“, „Geo“-Reporter und 16 Jahre lang Leiter der Henri-Nannen-Schule. Er ist Autor oder Ko-Autor der Bücher „Unsere tägliche Desinformation“, „Die Gruner- und-Jahr-Story“ und „Das neue Handbuch des Journalismus“.

Seine Homepage: www.wolf-schneider-sprachseminare.de

Erschienen in Ausgabe 09/2009 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 40 bis 41 Autor/en: Wolf Schneider. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.