Diagnose

Hört bloß auf zu loben! Über die Besinnungslosigkeit der Buchkritik

Das Buch, das ich lese, wird wahrscheinlich die Literaturgeschichte verändern. Sie wird nicht mehr dieselbe sein. Dieses Buch ist das Ende der Bücher, wie wir sie kennen, es ist Meisterwerk und Meilenstein in einem. Mit dem Buch, das ich vorher gelesen habe, war es ganz genauso. Es war ein Bravourstück, ein Stück aus der Zukunft der Literatur. Ähnlich wie die anderen Bücher, die ich in diesem Jahr gekauft habe: allesamt lassen sie den Leser Zeit und Raum vergessen.

Zumindest wenn man dem Feuilleton glaubt, in dem die Superlativismen nie ausgehen und die Autoren gruppenweise unter Genieverdacht gestellt werden. In keinem anderen Ressort wird so schwelgerisch gelobt, wird sich so affirmativ rangeschmissen wie im Literaturteil. Und selbst für die schlechten Bücher findet sich immer noch jemand, der schon aus Angst, nicht mehr mit Rezensionsexemplaren beschickt zu werden, lobhudelt, dass es kracht.

Das Buch, das ich lese, heißt „2666“ von dem chilenischen Autor Roberto Bolaña. „Für 2666 muss man eine neue Bezeichnung in die Literaturgeschichte einführen“ schrieb die „FAZ“, es handele sich um einen „Meilenstein der literarischen Evolution“, schrieb Ijoma Mangold (in der „Zeit“), den die Evolution ins Fernsehen trieb und man nicht weiß, ob sie das hätte machen sollen. Der „Spiegel“ verwendete das Wort, das in gefühlten 90 Prozent aller Kritiken Verwendung findet: „ein Meisterwerk“. Ich bin gerade bei Seite 200 von 1000 und noch ist es ziemlich normal – weder besonders toll noch besonders schlecht. Im „Freitag“ stand immerhin, dass es anfangs etwas zäh sei, aber dann das Beste, was man je im Leben gelesen habe. Soso.

Ich weiß nicht, was los wäre, wenn sich andere Redaktionen mit solcher Inbrunst des Schwelgens hingeben würden. Wenn der Sportredakteur von einem Fußballspiel berichtete, wie es noch nie eins gegeben hat, der Autotester von einem Wagen, der mit Worten nicht mehr zu beschreiben ist, der Politikredakteur von einer Rede, die einen nicht mehr loslässt und der Medienjournalist von einer Sendung, die Geschichte schreiben wird. Buchkritiker, merkt euch: Es gibt auch in anderen Lebensbereichen Positives zu berichten – aber deswegen belästigt keiner die Leser mit seinem Dauererregungszustand. Was man im Feuilleton tagtäglich vorgesetzt bekommt, würde man in anderen Zeitungsteilen garantiert nicht dulden.

Was treibt diese Kritiker? Haben sie Angst, nicht mehr mit Gratis-Vorabexemplaren versorgt und nicht im Klappentext zitiert zu werden? Sind es bewusstseinserweiternde Drogen wie Ecstasy? Man müsste auch mal recherchieren, ob manche Journalisten nicht sogar von Verlagen bezahlt werden.

Neulich habe ich eine Anzeige für das Buch „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace gesehen, in der Zitate aus vielen Zeitungen verwurstet wurden, die alle klangen, als müsste man seine Thomas-Mann- und Philip-Roth-Bücher umgehend wegschmeißen, um Platz für diesen Wälzer zu schaffen. „Mit diesem Buch beginnt eine neue Zeitrechnung in der Literaturgeschichte“, bramarbasierte die „Welt“, „das Buch vereine literarische Innovation und Lesbarkeit auf eigene, unerhörte, markerschütternde Weise“, schrieb die „FAZ“. Markerschütternd ist höchstens dieser permanente Ausnahmezustand im Feuilleton, der selbst Bücher voller windschiefer Metaphern wie „der Turm“ zu Heldentaten verklärt.

Das Schlimme ist: Als Leser kann man nur enttäuscht werden. Man hat beim Lesen das vielstimmige Lob im Kopf, dem kaum ein Autor gerecht werden kann. So leidet nicht nur die Glaubwürdigkeit der Zeitung, sondern letztlich auch die der Literatur.

Der Medienexperte Lutz Hachmeister sagte neulich, dass die deutschen Medien intellektuell und stilistisch erschlafft und nicht mehr auf der Höhe der Zeit seien. So nimmt es denn auch nicht wunder, dass es eben dort kein Gefühl mehr für Klugheit und Stil gibt und selbst zunächst kritische Besprechungen fast zwangsweise in ein Loblied münden. Nach dem Motto: „So scheiße, dass es schon wieder gut ist.“ So war es neulich, als der Feuilletonleiter der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“, Claudius Seidl, über die Biografie von Michael Graeter schrieb, und man als Leser die ganze Zeit in der Meinung bestätigt wurde, dass es sich bei Graeter um ein ziemlich eitles und chauvinistisches Exemplar Mann handelt. Aber anstatt seine Kritik in einem Finale von reich-ranickischer Wucht enden zu lassen, wurde Seidl am Ende ganz warm ums Herz und dem Leser das prollige Machwerk doch noch als äußerst lesenswert verkauft.

Vielleicht fühlte sich Seidl als überzeugter Münchener zu Graeter hingezogen, womit wir bei einem weiteren Problem der Buchkritik sind. Oft geht es nicht um die Qualität des Geschriebenen, sondern um andere Kriterien, die dem Rezensenten den Stift führen. So hat ein Buch größere Chancen, gelobt zu werden, wenn

a) der Autor eine Autorin und diese Autorin jung und hübsch ist (kommt besonders gut beim „Spiegel“ an).

b) der Autor oder die Autorin aus demselben Milieu wie der Rezensent kommt.

c) der Autor oder die Autorin für dieselbe Zeitung arbeitet wie der Rezensent.

d) der Autor oder die Autorin sich gerade erhängt hat oder krank ist.

Früher dachte ich immer, dass es in den Presseabteilungen Menschen gibt, die auch noch aus dem ärgsten Verriss die wenigen positiven Worte aus dem Zusammenhang reißen, um sie dann in Anzeigen und auf Rückseiten von Büchern zu drucken. Aus „unglaublich schlecht“ wird so das Gegenteil, nämlich „unglaublich“. Heute bin ich davon überzeugt, dass dieser Job abgeschafft ist.

Erschienen in Ausgabe 10+11/2009 in der Rubrik „Rubriken“ auf Seite 82 bis 83. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.