Pioniergeist

Es war ein spannender und lustiger Abend“, erzählt Senad Palic. Der Hobbyfotograf ist einer der Twitterer, den die Koblenzer „Rhein-Zeitung“ vor Kurzem zu ihrem dritten Followerabend in die Redaktion eingeladen hatte – zum nicht nur virtuellen Kennenlernen inklusive Besichtigung von Druckerei und Papierlager. Rund 10.000 Leser folgen mittlerweile den ingesamt 27 Twitter-Accounts der „Rhein-Zeitung“, die erst im Februar 2009 begonnen hat, Social Media professionell in eigener Sache zu nutzen. Seither arbeiten die Koblenzer ungewöhnlich konsequent am Um- und Ausbau ihrer Multimedia-Aktivitäten, die sich keineswegs nur auf Twittern beschränken (s. Seite 28 ff.).

Damit einher geht die Reorganisation der gesamten Redaktionsstruktur – die in den vergangenen Jahren eher für negative Schlagzeilen in der Branche gesorgt hatte dank radikaler Outsourcing-Politik des Verlags, der die Lokalredaktionen in außertarifliche bezahlte GmbHs auslagerte – auch räumlich. Mit so absurden Folgen, dass die Chefredaktion mit Sitz in der Verlagszentrale zwei Mal täglich zur Redaktionskonferenz ein paar Straßen weiter und dann wieder zurück in das eigene Büro fahren musste. Mittlerweile sitzen die Mantelredakteure wieder gemeinsam mit ihren Chefs Christian Lindner und Joachim Türk in einem Gebäude, an neuen Newdesks. Und mit neuer Aufgaben-Teilung: Die Seitenproduktion wird komplett in die Zentralredaktion verlagert, die 17 Lokalredaktionen vom Blattmachen befreit und zu mobilen Reportereinheiten umgewandelt.

Verlagschef Thomas Rochel nennt das „die Voraussetzung, um aus einem Verlagshaus ein Medienhaus zu machen“(s. Seite 31) – indem Lokalreporter sich auf ihre eigentliche Aufgabe – Themen aufspüren, planen und recherchieren konzentrieren können und die Blattmacher „die publizische Hoheit über das haben, was am nächsten Tag erscheint, und zwar in jeder Form: In Online, Twitter, sozialen Netzen und natürlich auch in Print“.

Die neue Rollenverteilung ist noch im Werden, nicht jeder, der jahrelang an feste Tagesabläufe vorgegeben durch die Seitenproduktion am Schreibtisch gewöhnt war, tut sich leicht mit der ungewohnten Freiheit, die die Reporter der „Rhein-Zeitung“ nun haben – und nutzen sollen. Viel Überzeugungsarbeit – „Gespräche, Gespräche, Gespräche“, so Rochel – muss dafür geleistet werden. Denn allen ist klar: Der Umbau kann langfristig nur funktionieren, wenn das gesamte Team mitzieht. Gleichzeitig lässt Rochel jedoch keinen Zweifel an der Entschlossenheit: Wir lassen uns natürlich nicht von unserem strategischen Kurs abbringen“. Und der heißt: Auch die Socialmedia-Generation für die Zeitung – gedruckt oder digital – zu gewinnen.

So wie bei Senad Palic. Wie er zur „Rhein-Zeitung“ kam? „Da ich sozusagen im und mit dem Internet aufgewachsen bin, probiere ich ständig neue Sachen aus. Melde mich oft in neue Communitys ein und bleibe, wenn´s mir gefällt. Ansonsten bin ich täglich im Netz unterwegs. So bin ich auch zu Twitter gekommen. In erster Linie bleibt man da noch im Freundeskreis und irgendwann addete mich die „Rheinzeitung“, weswegen ich ihr dann auch „gefolgt“ bin“, berichtet der Hobbyfotograf, der hauptberuflich im Produktmarketing/online arbeitet.

Die „Rhein-Zeitung“ hat früher schon mal als Pionier Zeichen in der Branche gesetzt – als sie 1995 als erste deutsche Tageszeitung mit einer eigenen Redaktion online ging und 2001 weltweit das erste E-paper auf html-Basis startete. Vielleicht gelingt ihr mit dem neuen Kurs wieder eine Vorreiter-Rolle. Im Mut zum Experimentieren hat sie diese jetzt schon.

Annette Milz

Erschienen in Ausgabe 10+11/2009 in der Rubrik „editorial“ auf Seite 3 bis 5. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.