Diagnose

Nach Stefan Aust ist beim „Spiegel“ nur das Betriebsklima besser geworden

Natürlich ist es kein Ausweis einer konservativen Gesinnung, wenn man schon mit dreißig nur noch im dreiteiligen Anzug herumläuft: Hose, Sakko und Weste aus grauem, gekämmtem Garn – aber dieses Bild hatte ich wieder vor Augen, als das Buch des „Spiegel“-Redakteurs Jan Fleischhauer erschien, in dem geschildert wird, wie er als Linker aus Versehen konservativ wurde. Wann bitte schön war Fleischhauer denn nicht konservativ, fragte ich mich – als ich vor über zehn Jahren das Büro neben seinem hatte, war er es jedenfalls schon. Oder zumindest war er da schon nicht mehr links, sondern ein eilfertiger Anhänger des neoliberalen Ressortleiters Gabor Steingart, der je nach Bedarf auch kapitalismuskritische Geschichten schreiben konnte und damit als Homunkulus des „Spiegel“-Redakteurs der Null-Jahre fungierte. So wie Fleischhauer je nach Bedarf garantiert auch ein Buch darüber schreiben könnte, wie er aus Versehen links wurde – sagen wir am Ende dieser Legislaturperiode.

Mit dem Gesamt-„Spiegel“ hat das Folgendes zu tun: Wenn man zum Beispiel mit Redakteuren aus dem Politikteil des „Spiegel“ über Fleischhauers Buch spricht, überschlagen sie sich fast vor Lob. Was nur zweierlei Deutung zulässt. Entweder darf man auch nach Aust beim „Spiegel“ nichts kritisieren, was aus dem Haus kommt – oder es ist nach wie vor nicht wichtig, ob man eine These plausibel argumentieren kann, sondern lediglich, dass es sich lustig liest.

Wahrscheinlich trifft Letzteres zu, denn nirgendwo wurde die Binse, dass es recht und links nicht mehr gibt, so gern als Arbeitsmaxime adaptiert wie in der Parlamentsredaktion des „Spiegel“. Denn wenn es links und rechts gar nicht gibt, wird auch aus der wöchentlichen politischen Schlingerfahrt, die Hans Magnus Enzensberger dem „Spiegel“ schon vor Jahrzehnten attestierte, eine schnurgerade Angelegenheit; ja, vielleicht sogar eine Haltung.

Nach dem Abtritt von Stefan Aust hatte man zwei Hoffnungen: Intern war es die, dass sich das Betriebsklima, das aus Duckmäusertum und Angst bestand, aufhellt. Diese Bitte wurde erfüllt, aber leider hatten all die Jahre, in denen die Redakteure den Hierarchien entgegendachten und sich über die fehlende interne Meinungsfreiheit mit der saftigen Gewinnausschüttung hinwegtrösteten, einen Journalistentypus hervorgebracht, den auch ein gutes Arbeitsklima nicht mehr aus der Lethargie reißen kann. Sehr gut konnte man das aus einem Interview mit dem Filmemacher Michael Haneke herauslesen, der mit dem „Weißen Band“ ein bedrückendes Bild der Gesellschaft am Vorabend des 1. Weltkriegs geschaffen hat, von den „Spiegel“-Redakteuren aber penetrant gefragt wurde, warum er nicht eine heilere Welt zeige.

Wie bei Aust gibt es beim „Spiegel“ nach wie vor ein von Woche-zu-Woche-Denken, das bei Aust noch zum Machterhalt und zum besseren Abverkauf diente, unter Mathias Müller von Blumencron wohl dem Umstand geschuldet ist, dass die beiden neuen Frontmänner aus dem Blaulicht-Ressort D2 bzw. dem Internet kommen. Sprich: beide interessieren sich nicht so für Politik und lassen deshalb die entsprechenden Ressortleiter agieren. Unter Aust wünschte man sich deren Macht größer, jetzt ist es umgekehrt.

Man weiß ja gar nicht, was einen mehr wundern soll: Wie schnell der „Spiegel“ eine Titelgeschichte über die Mängel der schwarz-gelben Koalition aus dem Hut zauberte oder der Umstand, dass die darin bemängelte Politik von der „Spiegel“-Redaktion nicht schon vor der Bundestagswahl antizipiert worden war. In der dürren Story wurde ein selbstverständlich anonymer „FDP-Mann“ wiedergegeben, der die Geisteshaltung der CDU-Unterhändler so beschrieb: „Wir ändern hier gar nix“. Das trifft im Übrigen auch ganz gut auf die „Spiegel“-Redaktion zu: Seit Jahren gibt es in dem Blatt keine politische Haltung, die nicht in der nächsten Nummer durch eine amüsante Pointe gekippt werden könnte. Wobei Amüsement hier auf sehr anstrengendem Niveau stattfindet – etwa dann, wenn sich die Autoren zwei Absätze lang nur damit beschäftigen, welcher Apfelsaft bei den Koalitionsverhandlungen getrunken wurde. Was immer das dem Leser auch sagen soll, außer: Der „Spiegel“-Reporter war wieder mittenmang statt nur dabei.

Noch unmittelbar vor der Wahl war der ehemalige Umweltminister Sigmar Gabriel, der im „Spiegel“ über all die Jahre als Lieblingsfeind diente, die letzte Pfeife, nach der Wahl hieß es plötzlich, es fehle das „heiße Blut“, wie es Gabriel in der Großen Koalition gezeigt habe. Man wird nach dem Regierungswechsel den Eindruck nicht los, dass sich der „Spiegel“ damit zufrieden gibt, den Kritikaster zu geben, der eben gerade die Politiker rannimmt, die an der Macht sind.

Die Hoffnung, dass der „Spiegel“ unter Blumencron und Mascolo eine verlässlichere Haltung entwickelt, hat sich zerschlagen, wie auch die Hoffnung auf bessere Titelgeschichten als in Austs Endphase. Ja, es gab die akribische Entschlüsselung der Ursachen der Finanzkrise im allzu beliebten Tagebuchstil, und über die mal wieder die Republik sprach – danach aber gab es entweder Derivate dieser Story oder regelrechte Ausfälle, bei denen nicht nur intern die Köpfe geschüttelt wurden: Michel Schumacher war so ein Titel (19. Oktober) oder die Leidensgeschichte des Starreporters Jürgen Leinemann, die zwei Wochen vor der Wahl erschien. Merkel und Steinmeier fand man in jener Woche lediglich auf dem Cover des neuen Kinder-„Spiegel“. Es ist auch sehr beredt, dass die journalistische Gattung des Kommentars, über deren Wiedereinführung man beim „Spiegel“ seit fünf Jahren spricht, nach wie vor allenfalls homöopatisch verabreicht wird. Und was soll man dazu sagen, wenn der „Spiegel“ über ein Verhältnis von Oskar Lafontaine mit Sarah Wagenknecht als Grund für seinen Rückzug spekuliert und eine Woche später bekannt wird, dass Lafontaine Krebs hat.

Ja, es gibt auch Positives: Den Kulturteil jenseits der Filmrezensionen zum Beispiel, wo der Ämterwechsel in der Chefredaktion tatsächlich eine Ende des Nepotismus bachte: Das heißt, es dürfen nun auch andere schreiben als die Spezis des Ressortleiters und es gibt nicht nur Kritiken über die Bücher junger, hübscher Autorinnen oder 08/15-Interviews mit Hollywoodstars zu Presseterminen. Der Kulturteil ist so gut wie seit Jahren nicht und derzeit das Beste im „Spiegel“. Ob das ein gutes Zeichen ist? Wenn Jan Fleischhauer nur ein Leser wäre, hätte er schon ein Buch daraus gemacht: Wie ich mich aus Versehen für Kultur interessierte.

Erschienen in Ausgabe 12/2009 in der Rubrik „Rubriken“ auf Seite 64 bis 65. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.