Ganz nah am Nutzer

Mit Twitter-Hinweisen rührt Philipp Ostrop, Redaktionsleiter des RegioDodesk von Ruhrnachrichten.de seit Mitte November die Werbetrommel für das neueste Digitalprojekt der „Ruhr Nachrichten“ (Medienhaus Lensing). Zum Beispiel so: „Traumhafte Winterbilder hat User fuehner eingestellt, zum Beispiel das: http://bit.ly/2lhIKH“ oder „Wie cool sind denn bitteschön diese alten Bilder vom Seifenkisten-Rennen in Olfen? http://bit.ly/4ktGm7“ . Nahraum.de nennt sich das Fotoportal, das es Nutzern ermöglichen soll, ihre historischen und aktuellen Fotos aus dem lokalen Raum zu teilen und eine kollektive visuelle Stadtgeschichte aufbauen. „Wir wollen die Zeitungstradition, das Leben in der Region zu begleiten und damit Zeitgeschichte zu dokumentieren, ins 21. Jahrhundert übertragen und mit den Möglichkeiten des Internets zeitgerecht erweitern“, betont Carsten Kaiser, der als Geschäftsführer der Lensing Medien GmbH den Bereich Online Multimedia leitet.

Starke Beteiligung. Offenbar wird das Angebot vom Start weg gut angenommen. In den ersten drei Tagen meldeten sich mehrere hundert Nutzer an, sorgten für täglich rund 15.000 Seitenzugriffe und stellten rund 500 Bilder ein – zusätzlich zu den über 37.000 Fotos aus dem Archiv, mit denen die Redaktion in Vorleistung ging. Nutzer boten Schuhkartons voller Aufnahmen an und der Heimatverein in Greven fragte an, ob er Tausende von Bildern ins Portal stellen kann, um alte Aufnahmen zu identifizieren. „Eine tolle Idee, über solche Initiativen freuen wir uns natürlich ganz besonders“, sagt Rainer Bartolain, Leiter Inhalte Online. Weniger erfreut sind allerdings professionelle Pressefotografen im Raum Dortmund. Sie sehen ihre Chancen schwinden, ihre eigenen lokalen Bildarchive zu vermarkten, wenn Hobbyfotografen (darunter auch sehr begabte) bereitwillig ihre privaten Fotoalben einscannen.

Doch gerade für die lokalen Medien liegt darin eine große Chance, Online-Nutzer und Leser stärker an das eigene Medium zu binden. Denn immer wieder zeigt sich, dass Bürger und Mediennutzer trotz Surfen im weltweiten Netz sich mit ihren unmittelbaren Lebensräumen, ihrer Straße oder ihrem Stadtteil am stärksten identifizieren. Vor allem, wenn sie dazu aufgefordert werden, eigene kreative Beiträge zu leisten, die über die üblichen Kommentare und Bewertungen hinausgehen.

Die „Hessische/Niedersächische Allgemeine“ erstellte am 21. Oktober – 24 Stunden vor dem Jahrestag der Kasseler Bombennacht am 22. Oktober 1943 – eine interaktive Karte „So sah Kassel früher aus“ mit 200 Bildern. Weitere rund 150 Fotos stellten Nutzer bereit. Laut Jens Nähler, Ressortleiter HNA Online, ist die interaktive Karte der Auftakt für ein dauerhaftes Projekt einer hyperlokalen Fotochronik. Hinzu kommen demnächst 5.000 Bilder aus dem Stadtarchiv und weitere Fotos, die Bürger vor allem aus den einzelnen Kasseler Stadtteilen zuliefern sollen.

Das „Hamburger Abendblatt“ fand vor anderthalb Jahren mit seinem Aufruf, anlässlich der 60-jährigen Geschichte der Zeitung Hamburg im Wandel der Zeiten zu dokumentieren, großen Zuspruch in Form von Zuschriften und Bildern. Mittlerweile sind nicht mehr alle Seiten der befristeten Jubiläumsaktion aufrufbar. Doch offenbar plant das „Abendblatt“, die Bürger erneut zu aktivieren. In welcher (hyperlokalen) Form das geschehen wird, ist aber noch unklar. Man „arbeitet an dem Thema“ heißt es aus der Pressestelle des Axel Springer Verlags.

Dauerhaft steht bereits seit September 2008 die Geschichts-Werkstatt „von Zeit zu Zeit“ der „Stuttgarter Zeitung“ im Netz (Leitung: Thomas Faltin und Hilke Lorenz). Für das aufwendige Online-Projekt konnte die StZ das Stadtarchiv und die Volkshochschule Stuttgart gewinnen. Das Angebot wurde nicht nur von den Nutzern sehr gut angenommen: Für das „Geschichtsportal zum Mitmachen“, gab es 2009 sowohl den Lokaljournalistenpreis Konrad Adenauer 2009 als auch eine Nominierung für den Grimme Online Award 2009.

Für Meinolf Ellers sind lokale Geschichtsportale eine ideale Erweiterung von Zeitungs-Webangeboten. „Regionale Verlage können mit Local History Portalen ihre Storytelling-Kompetenz stärken“, sagt der Geschäftsführer der DPA-Multimedia- und Mobilfunktochter. Für die idealen Sponsoren solcher Portale hält er beispielweise Energieversorger oder Familienunternehmer mit lokalem Geschichtsbewusstsein.

Multi-Plattform MyHeimat. In einigen Regionen ist die regelmäßige Zusammenarbeit zwischen Bürgern, Journalisten und lokalen Unternehmen schon Gewohnheit. Vor allem dort, wo Gogol Medien mit Tageszeitungsverlagen kooperiert. Der Augsburger Anbieter stellt seit 2003 über eine browser-basierte Publishing-Lösung die Plattform zur Vergügung. In den letzten anderthalb Jahren verfassten 30.000 Amateurreporter über 170.000 Beiträge, 500.000 Kommentare und 350.000 Fotos zu lokalen und sublokalen Themen veröffentlicht wurden. „Hyperlokale Inhalte und tief in der Region verortete Geschichten bieten enormes Potenzial. Lokalzeitungen haben eine gute Startposition, um dieses Potenzial zu erschließen“, betont Martin Huber, Geschäftsführer von Gogol Medien. Aber das funktioniere nicht allein mit professionellem Journalismus. „Wer tiefer in die Regionen einsteigen will, muss ergänzend andere Quellen benutzen.“ Anfängliche Skepsis von Redakteuren, sie müssten unter Umständen Zehntausende von unredigierten und weitgehend ungeeigneten Beiträgen sichten, lege sich in der Praxis, weil die myHeimat-Community bereits eine Vorauswahl treffe. „Unser System, das in zunehmender Transparenz anzeigt, warum bestimmte Beiträge sozusagen nach oben gespült werden, zapft von verschiedener Seite die Weisheit der vielen an.“ Mitte November verfeinerte die Plattform dafür die Tools. Angemeldete Nutzer sehen nun, welche Beiträge in ihrer Region am häufigsten gelesen, kommentiert, empfohlen oder abgedruckt werden. Außerdem wird angezeigt, welche Beiträge am häufigsten über externe Links oder Suchmaschinen abgerufen werden.

Vor allem im Schwäbischen, in Hessen und Niedersachsen unterhält MyHeimat Kooperationen mit Verlagen als Lizenznehmern. „Hannoversche Zeitung“, „Marburg extra“, Waldeckische Landeszeitung“ und mehr als ein Dutzend weitere Tages-, Wochen- und Anzeigenblätter bedienen sich aus dem Pool örtlich relevanter Beiträge für Online, die Zeitung oder neue Printprodukte, wobei die Beiträge, Magazine oder Broschüren mit jeweils einem ”MyHeimat“-Logo gekennzeichnet werden.

Für die zwei Mal wöchentlich erscheinende kostenlose „Gießener Zeitung“, an der Madsack beteiligt ist, schreiben Journalisten und Bürger gemeinsam. Eine weitere Kooperation mit der „Leipziger Volkszeitung“ startet im Januar. Auch die Madsack Heimatzeitungen (MH), die mit acht Ausgaben in 22 Städten im Umland von Hannover erscheinen, sind seit April 2008 dabei. „Themen, die Bürgerreporter ausgraben, haben unsere Redakteure häufig auch auf dem Radar. Aber manchmal eben auch nicht“, begründet MH-Chefredakteur Peter Taubald die Vorteile der Kooperation. So habe eine Bürgerin aus Laatzen auf dem MyHeimat-Portal jüngst über die angeblich bevorstehende Schließung eines örtlichen Supermarkts berichtet. „Wir haben das nachrecherchiert und es stimmte.“ Mit Taubalds Auffassung, dass die professionelle Nachrecherche eine originäre Aufgabe von Journalisten sei, egal, ob eine Information von einem klassischen Informanten oder einem Bürgerreporter stamme, stimmt Huber überein: „Journalisten bekommen durch Kuratieren und Begleiten von Amateuren ganz neue Kompetenzen.“

Finanzierungsfragen. Auch wirtschaftlich eröffnen sich in hyperlokalen Räumen neue Perspektiven. Allerdings ist es nicht einfach, sie zu erschließen. „Ob Werbekunden tatsächlich auf neue Onlinemodelle anspringen, ist auch eine Generationenfrage. Der Metzgermeister kurz vor
der Pensionierung hinterfragt in der Regel nicht die Angebote seines vertrauten Mediaberaters, im traditionellem Print-Umfeld zu schalten. Da ist mehr Zeit und Überzeugungsarbeit notwendig“, betont Huber. „Bei einem monatlichen Werbebudget von 50 Euro kann sich kein Mediaberater um einen lokalen Werbekunden kümmern“, gibt außerdem die Münchner Medienberaterin Katja Riefler zu bedenken. Sie hat für den Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger in einer Studie hyperlokale Verlagsstragien erforscht (s. Linktipps) Um bei Nutzern und Anzeigenkunden wirtschaftlich tragfähige Angebote im hyperlokalen Raum zu etablieren seien „Fantasie, Engagement und Durchhaltevermögen“ gefragt, so Riefler.

Doch in der Kooperation mit dem Dienstleister MyHeimat sieht Taubald im Hyperlokalen „auch eine Chance, lokale Werbemärkte besser auszuschöpfen und eine Anbindung zu potenziellen Werbekunden zu bekommen, die in kleinsten Zusammenhängen denken.“ Vor allem die MyHeimat-Sonderpublikationen der Madsack-Heimatzeitung laufen laut ihrem Chefredakteur wirtschaftlich gut. Wenn der Verlag einer örtlichen Freiwilligen Feuerwehr zu ihrem 150-jährigen Bestehen eine 16-seitige Sonderpublikation in einer Auflage von 2.000 Stück spendiere, dann rechne sich das Produkt wirtschaftlich durch lokale Geschäfte als Sponsoren, die sich in der bunten Festschrift gerne präsentieren.

Neue Kunden. Auch Carsten Kaiser denkt bei der Refinanzierung des Fotoportals Nahraum.de an lokale Werbekunden, die nicht unbedingt in der Zeitung oder auf Ruhrnachrichten.de werben würden. Neben Nikon oder Canon als Sponsoren könne auch der örtliche Fotohändler eingebunden werden.

Um nicht nur für die Nutzer, sondern auch für lokale Werbekunden die Attraktivität durch möglichst viele lokale Zugänge zu steigern, soll Nahraum.de sukzessive nicht nur über die Startseite, sondern auch über die lokale Suche, über Links hinter möglichst vielen verschlagworteten Lokalberichten in den Online-Ausgaben und auch über Widgets auf fremden Websites zugänglich sein. Dann kann beispielsweise ein Nutzer aus Dortmund-Brackel ein Widget mit einem Foto seiner Straße als Startbild auf seiner Facebook-Profilseite installieren. Oder der Fotohändler in Lünen auf seiner Website.

Tipp:

Die Studie „Hyperlokale Verlagsstrategien“ von Katja Riefler (40 Seiten, erschienen im Juli 2009) kann beim BDZV bestellt werden. Kosten: 20 Euro plus Versand, für Nichtmitglieder des BDZV 36 Euro plus Versand für die Broschüre oder 25 Euro für die PDF-Version. Internet-Kontakt: http://bit.ly/2WEeME

Erschienen in Ausgabe 12/2009 in der Rubrik „Special“ auf Seite 26 bis 26 Autor/en: Ulrike Langer. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.