Erste Hilfe in Bremen

Lars Haider ist gut darin, Fragen zu stellen. Im „Weser-Kurier“ führt der Chefredakteur Interviews mit Staatsminister Bernd Neumann, mit Renate Künast, Franz Müntefering oder seinem Kollegen Giovanni di Lorenzo von der „Zeit“. Die Gespräche sind unterhaltsam und „man lernt eine Menge“, sagt Haider, 40 Jahre, blauer Anzug, weißes Hemd, ein im Springer-Verlag sozialisierter Schnellsprecher, dessen Haargel-Verbrauch im oberen Bereich der Kai-Diekmann-Skala liegt.

Das Fragenstellen hat er zum Chef-Prinzip gemacht. „Wir hamm‘ uns dann mal gefragt“, so beginnt er viele seiner Sätze, meint eigentlich sich selbst und liefert die Antwort gleich hinterher.

Die Sache mit den Lehrern, zum Beispiel beantwortet ziemlich gut, wie Haider Fragen stellt und dabei zu lernen versucht. Sie beantwortet vielleicht sogar, wie der Chefredakteur einer deutschen Regionalzeitung in Zeiten denken muss, in denen stagnierende Abo-Zahlen als Sieg gefeiert werden und das Anzeigengeschäft brach liegt. „Mich haben die Rechtschreibfehler im, Weser-Kurier‘ geärgert“, sagt Haider. „Also hamm‘ wir uns gefragt: Wer kennt sich damit aus?“ So sitzen jetzt pensionierte Lehrer täglich an einem eigenen Schreibtisch in der Redaktion und eliminieren mit Verve, was sie ihr Leben lang getan haben: Kommafehler, Tippfehler, Grammatikfehler. Seither tendiert die Fehlerquote Richtung Null. „Sie haben Zeit und sie haben Lust“, sagt Haider. Und sie arbeiten ehrenamtlich.

Haider ist seit einem guten Jahr der Chef des „Weser-Kurier“. Seitdem hat der neue „We Ka“, wie sie in Bremen sagen, mit dem alten WK bis auf die Grundschrift fast nichts mehr gemein – nur gemerkt haben das die Bremer erst mit der Zeit. Die 150 großen und kleinen Änderungen sind Produkt eines Relaunches, den Haider „evolutionär“ nennt. „Ich wollte nicht irgendeinen Zeitungsdesigner anrufen und dann mit einem großen Knall alles ändern“, sagt er, „das iss‘es nicht.“ Haider hat ein Bild dafür, von dem er gerne erzählt, es handelt von der Zeitung als einem alten Haus, das erneuert werden soll. „Das reißen Sie ja nicht einfach ab“, sagt er, „das renovieren sie liebevoll.“

Das leuchtet vielen ein und darüber vergisst der eine oder andere die Frage, ob die Bremer Tageszeitungs AG, die den WK herausgibt, eine Revolution überhaupt jemals finanziert hätte. Die Frage spielt jetzt, wo der WK zu überleben versteht, keine Rolle – Haiders Zweckoptimismus hat der Zeitung geholfen, die Stimmung ist so gut wie lange nicht, heißt es im Haus.

Das Tom-Sawyer-Prinzip.

Wenn Haider sein Konzept erklärt, spricht er gern von „Autorenzeitung“. Und verweist mit Stolz darauf, dass seit seinem Amtsantritt der Anteil an Agenturmeldungen im Blatt auf rund zehn Prozent gesunken sei. Praktisch heisst das: Die Redakteure schreiben viel mehr selbst, arbeiten länger, produzieren mehr, auch kostenpflichtige Beiträge von Freien werden weniger gedruckt.

Man kann dieses Konzept „Autorenzeitung“ nennen und dennoch wurde Mehrarbeit selten so euphemistisch eingeführt. Lars Haider ist als Chefredakteur ein Meister des Tom-Sawyer-Prinzips: er verkauft Arbeit als Attraktion – eine Manager-Tugend, die man nicht genug schätzen kann in einer Branche, deren Vertreter mit hochgezogenen Schultern über Redaktionsflure schleichen, immer in Erwartung des nächsten Nackenschlages, der nächsten Entlassungswelle, der billigeren Auslagerung von Autoren. Für den Redaktionsalltag in diesen Krisenjahren spielt die Motivationsquelle eine große Rolle – nur versiegen darf sie nicht.

Haider will, so sagt er es, „das Selbstbewusstsein der Redakteure mit Qualitätsjournalismus“ stärken. Und weil der teuer ist und Haiders Budget nicht wächst, ist er ziemlich gut darin, aus der Not Tugenden zu machen.

Seine „Bremer Begegnungen“ sind nicht aufwändig, aber beliebt bei den Lesern, die gespannt verfolgen, wenn eine Hebamme auf einen Bestatter trifft, wenn der Luxushotel-Chef mit dem Jugendherbergsvater plaudert oder der ADAC mit dem ADFC. „Wir wollen doch von Menschen lesen, die sonst nicht in der Zeitung stehen“, sagt Haider, „und nicht das, was am Vorabend in der „Tagesschau“ kam.“

Seine Redaktion hat „555 Dinge, die man in Bremen und Umgebung gemacht haben muss“ in einer langen Serie zusammengetragen und als Buch veröffentlicht, jetzt in dritter Auflage verkauft. Service kann manchmal auch charmant sein, das will Haider damit demonstrieren und greift nach der WK-Broschüre „Erste Hilfe für alltägliche Notfälle“, die inzwischen auf Polizeiwachen ausliegt.

Möglich, dass es so etwas wie ein modernes Heimatgefühl ist, das Haider mit solchen Projekten zu konservieren versucht, in einer aufgeklärten und gutbürgerlichen Stadt wie Bremen. Als Horst Köhler zurücktritt, verteilen die „Kurier“-Leute nur wenige Stunden später ein Extra-Blatt in der Stadt – im Jahr 2010 vielleicht das Gegenteil von Online-Journalimus, aber gerade deswegen kurios und beliebt. Und wenn am 3. Oktober die Bundesratspräsidentschaft Bremens endet, erscheint der „Weser-Kurier“ in drei Büchern: Einigkeit, Recht, Freiheit – und was die Redakteure darunter verstehen.

Die neue Währung.

Die Frage, ob Haiders Evolution den „Weser-Kurier“ auf Erfolgskurs gesetzt hat, lässt sich in Krisenzeiten weniger opulent illustrieren, als es dem Chefredakteur wahrscheinlich gefallen würde. Die Auflagen-Amplitude ist keine Linie, die in den Himmel klettert, sondern gleicht eher einem Ruhe-EKG. Haider übernahm den WK bei 156 000 Abonnements, aktuell liegt er bei 153 000. Bei rund einer halben Million Bremern bedeutet das eine Haushaltsabdeckung von 65 Prozent. „Wenn man die ersten Quartale vergleicht, ergibt sich bei der verkauften Gesamtauflage ein Minus von 0,8 Prozent“, sagt Haider und alleine lässt er einen solchen Satz nie stehen. „Das ist das zweitbeste Ergebnis einer deutschen Tageszeitung.“ Im Jahr vor Haider waren es noch minus 3,4 Prozent.

In einer Zeit, die Rekorde nur noch im Anzeigendefizit vermeldet, hat der WK eine neue Währung entdeckt – und aufpoliert: den Journalistenpreis. Sechs sind es allein in diesem Jahr, und am 30. August wird in Bremen der 1. Platz des Deutschen Lokaljournalistenpreis gefeiert. Haider hat eine Redaktion für „Recherche und Ausbildung“ gegründet, die monothematische Dossier-Seite eingeführt, die neue Chefreporterin Christiane Kröger, eine Rechtsradikalismus- und Rockerbanden-Expertin mit exzellenten Ruf, hat im Mai den Wächterpreis (2.Platz) gewonnen. „So schlecht können wir also nicht sein“, sagt er, während er die Liste der journalistischen Auszeichnungen an seinen Fingern aufzählt, auch wenn das Gegenteil niemand behauptet.

In der Redaktion gilt Haider als beliebt, „er ist manchmal ein bisschen sehr fix“, sagt die Sportredakteurin Ruth Gerbracht, „er hat uns mit seinen Ideen aber wieder richtig Lust auf den Job gemacht“. Wenn Haider über die Flure des Pressehauses schlendert und hier ein „Moin“ und dort ein „Hallöchen“ fallen lässt, dann wird die Stimmung mit Händen greifbar, die sich der junge Chef für seine Mannschaft wünscht. Die sich wünscht sich allerdings bisweilen einen Vorgesetzten, der auch die unbequemen Wahrheiten ausspricht. Unpopuläres lässt Haider schon mal den Chef vom Dienst verkünden, heißt es etwa aus dem Betriebsrat. „Haider geht durchs Haus und sagt, ich bin der Gute‘. Das kann aber nicht immer funktionieren“, sagt ein erfahrener Kollege.

Und immer noch sei es schwierig für den normalen Redakteur, Zeit für investigative Geschichten zu bekommen, wird erzählt. „Wir müssen mit dem Dreirad investigative Geschichten bewältigen, für die der, Spiegel‘ den Porsche vorfährt“.

Dabei schätzt Haider Mobilität. Die Wochenenden verbringt er selten in Bremen, seiner Frau arbeitet beim „Hamburger Abendblatt“ wie er selbst früher, „ich bin gerne unterwegs“, sagt er. Wie lange Haider den „Weser-Kurier“ auf Kreativ-Kurs halten wird, ist offen.

Es ist kein Geheimnis, dass sich der ehemalige Vizechef der „Berliner Morgenpost“ mit Springer-Chef Mathias Döpfner gut versteht. Wen Döpfner das hauseigene Executive-Programm für Führungskräfte hat passieren lassen, den gibt er so schnell nicht verloren. „Wenn wir uns treffen, fragt er immer, wann ich zurückkomme. Die Frage stellt sich aber nicht“, sagt Haider – Chefdiplomatie, keine Frage.

In seinem Büro hängen die Abschiedszeitungen alter Arbeitgeber wie Trophäen an der Wand, mit netten Wünschen, Fotomontagen und Frotzeleien. Der „Weser-Kurier“ wird wohl eines Tages dazugehören.

Medium:Online

Was Lars Haider macht, wenn der Bremer Mesut Özil Weltmeister wird, und was er bei Springer gelernt hat, finden Sie im Text  „Fünf Fragen an …/www.mediummagazin.de, magazin +

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UPDATE 19.5.2011: Axel Springer gibt bekannt, dass Lars Haider zum 1.7.2011 Chefredakteur des „HAMBURGER ABENDBLATTS“ wird – als Nachfolger von Claus Strunz, der zeitgleich Geschäftsführer des neu geschaffenen Bereiches TV- und Videoproduktionen im Konzern wird.

Erschienen in Ausgabe 07+08/2010 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 32 bis 32 Autor/en: Jochen Brenner. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.