Grandios & gnadenlos

Er will nicht geliebt werden. Er will nicht gefürchtet werden. Eigentlich will er nur in Ruhe gelassen werden. Und doch war er in seinen Jahren als Büroleiter der „Süddeutschen“ irgendwie beliebt, gelegentlich gefürchtet, von den meisten geachtet und von manchen sogar bewundert.

Wenn Kurt Kister wieder einmal einen „Leiter“ oder ein „Edi“ geschrieben hatte, entwickelte sich in den nur mäßig vergnüglichen Morgenlagen in Presseamt oder Kanzleramt eine geschäftige Aufgeregtheit: „Haben Sie den Kister schon gelesen?“ „Den Kister müssen Sie unbedingt lesen – großartig, amüsant, aber ziemlich böse!“ So war das in Bonn und in Berlin: „den Kister“ musste man einfach gelesen haben, denn irgendwann würde man zwischen dem „Café Einstein“ und dem „Borchardt“ in eine vertraute Runde mit den üblichen Verdächtigen aus dem politisch-medialen Komplex geraten, die sich darin erging, „den Kister“ exegetisch zu diskutieren.

Kurt Kister war als Hauptstadt-Büroleiter ein Alpha-Journalist, obwohl er rein phänotypisch eine eher unauffällige und unscheinbare Erscheinung ist.

Freundschaften beginnen zufällig und oftmals in einem Restaurant. Bei Kister und mir war es das Restaurant im Behnisch-Bundestag in Bonn. Es war im Frühjahr 1999, der rot-grünen Koalition erging es nach Lafontaine-Rücktritt, Hessen-Debakel und Balkan-Einsatz in der öffentlichen Kommentierung ähnlich wie der amtierenden Regierung Merkel-Westerwelle, wobei SPD und Grüne damals wirklich zusammen regieren wollten.

Mit Reinhard Hesse, dem verstorbenen Redenschreiber von Gerhard Schröder, besprach ich einen Text, als sich Kister zu uns gesellte. Wir unterhielten uns angeregt, als vom Nachbartisch die Bitte erging, über den aktuellen Verhandlungsstand beim Brüsseler Ministerrat zur Altauto-Richtlinie informiert zu werden. Immerhin lag – zumindest gefühlt – das Schicksal der deutschen Automobilindustrie an dem Tag in der Hand des grünen Umweltministers, was nicht gerade zur Beruhigung beitrug. „Was machen meine Altautos?“, schallte es herüber – Kister konnte kaum noch an sich halten. Zum Glück stehen die Altautos seitdem nicht zwischen uns, sie verbinden uns genauso wie viele andere Erlebnisse in den turbulenten rot-grünen Jahren. Denn eigentlich ist Kister einer der maßgeblichen Chronisten der Schröder-Fischer-Ära, der Zeit der „Silberrücken“ in der Politik.

Bald selbst ein „Silberrücken“.

Für Kurt Kister ist die Unabhängigkeit des Journalismus ein hohes Gut. Sie verlangt nach seiner Überzeugung vom Journalisten persönliche Unabhängigkeit und innere Freiheit gegenüber der Politik. Kister hat keine Angst vor Thronen und der Macht, katzbuckeln ist ihm fremd, servil aufzutreten unvorstellbar. Vielleicht sind seine provozierenden, respektlosen und sarkastischen Einwürfe eine Mischung aus Koketterie und Selbstschutz, aber sie machen deutlich: Kister ist weder zu vereinnahmen noch zu instrumentalisieren.

Und so nimmt sich der begnadete Schreiber und grandiose Wortakrobat in seinen Texten alle Freiheiten. Nur wenige können so genau beobachten wie er. Eine Pressekonferenz des Bundeskanzlers geriet zur Staffage, wenn der beratende Beamte plötzlich wegschlummerte. Kister ist ein Meister darin, Mechanismen zu decouvrieren, ohne die Beteiligten zu desavouieren. Er kritisiert, ohne zu kompromittieren. Die Farbe seiner Texte allerdings wechselt je nach persönlicher Stimmungslage: mal luminös, mal luguber, mal luziferisch, immer luzide.

Kister mokiert sich mit Verve über „beflissene Hintersassen“, „ergebene Unterlinge“ und „graugesichtige Lemuren“ in der Politik. Als Chefredakteur ist er selbst ein „Silberrücken“. Vielleicht wird er künftig Hintersassen und Unterlinge mehr zu schätzen wissen.

Eine eindringliche Bitte habe ich an den Freund und Journalisten: Hör‘ bitte nicht auf, regelmäßig zu schreiben. Denn mit mir freuen sich viele auf „den Kister“.

Ich war als neuer Kollege zur „Süddeutschen Zeitung“ gekommen, um die – wie ich schnell merkte – im Haus recht unbeliebte Berlin-Seite zu leiten. An einem der ersten Tage ging ich mit Kurt Kister, dem damaligen Leiter des Berlin-Büros Mittag essen. Als Erstes sagte er mir, dass er die Berlin-Seite am liebsten abschaffen würde, sie reine Geld- und Ressourcenverschwendung sei. Das fand ich einerseits natürlich schade, andererseits entwaffnend ehrlich. Wenigstens tat Kister nicht wie viele andere Kollegen aus dem Parlamentsbüro so, als würde er unsere Arbeit ernstnehmen. Und im Gegensatz zu denen schrieb er sogar für die Berlin-Seite, was andere gute SZ-Autoren mit dem halben Arbeitspensum von Kister gern mit Verweis auf die fehlende Zeit ablehnten. Kister nörgelte zwar wie der Rest der SZ ständig über Berlin, blieb aber dennoch neugieriger als all die Münchener, die sich ja bis zum heutigen Tag an der Hauptstadt abarbeiten.

Einmal war Kister für uns zu einem Madonna-Konzert in der Max-Schmeling-Halle gegangen – Madonna hatte ihre Tournee unter das Motto „USA“ gestellt und Kister war als ehemaliger USA-Korrespondent die Bestbesetzung. Jedenfalls wurde das Stück am Tag des Erscheinens von Chefredakteur Hans-Werner Kilz in der Morgenlage mit den Worten gelobt, dass man das Wort „ficken“, das Kister verwendet hatte, lange nicht im Blatt gehabt habe. Worauf ihn Kister fragte, ob Kilz denn noch wisse, was das sei.

So war es immer bei Kister: Man bewunderte ihn für seine Bissigkeit und Schlagfertigkeit und erschauerte gleichzeitig angesichts seiner Geschmack- und Rücksichtslosigkeit. Man will ihm oft beipflichten, wenn er überall Mittelmaß sieht oder Unfähigkeit und fragt sich gleichzeitig, ob man so menschenverachtend mit den Mittelmäßigen und Unfähigen umgehen darf. Er ist zweifellos einer der besten Journalisten des Landes, aber leider auch ein Menschenverachter, der zudem sein Bad-Boy-Image fleißig kultiviert, die Redaktion aus dem Schützengraben heraus betrachtet und sich selbst als eine Art publizistischen Bellizisten sieht.

Wäre er ein Einzelkämpfer, wäre das egal. Aber eine Redaktion funktioniert nicht als Ansammlung von Einzelkämpfern und die der SZ schon gar nicht. Dort hat man sich früher eher als Familie definiert – voller begnadeter und sensibler Gemüter. Sensibel darf man aber in Kisters Reichweite nicht sein. Nur gut, dass es eh nicht mehr so viele Künstlerseelen bei der SZ gibt, deren Emotionalität ja eben auch tolle Texte hervorbrachte.

„Warum bringen Sie sich nicht um?“

Einmal hat mich Kister im Aufzug gefragt, warum ich mich eigentlich nicht umbrächte. Ich glaube nicht mal, dass es verletzend gemeint war und wahrscheinlich hat er auch gewusst, dass mir so eine Frage nicht viel ausmacht – und dennoch trägt so was dazu bei, dass man bei Kister neben dem Genialen auch immer gleich an das Misanthropische denkt. An das Schlechtgelaunte, das er zu seinem Markenzeichen gemacht hat. Wenn ich Kollegen fragte, was Kister derart bärbeißig gemacht hat, hieß es immer: der Rücken – oder: die Ehe.

Sollte so einer eine Redaktion leiten? Ein Menschenfeind, der von sich selbst sagt, dass er keine Freunde hat? Ich denke, dass die „Süddeutsche“ den umgekehrten Weg des „Spiegel“ nach Stefan Austs Abgang gehen wird. Dort ist das Betriebsklima besser geworden, das Blatt nicht unbedingt. Die SZ wird unter Kister wieder heißblütiger werden, aber intern wird es garantiert frostiger.

Diese Redaktion ist schon lange kein Wohlfühlladen mehr, nicht erst nach dem Umzug in ein Hochhaus, das eher den Anforderungen von autistischen Hedgefondsmanagern gerecht wird. Politiker, die nicht in der allerersten Reihe stehen, nennt Kister oft „Hintersassen“ und „Lemuren“. Nicht abwegig, dass er über die meisten seiner Kollegen, die ihm nun anvertraut werden, ähnlich de
nkt.

Erschienen in Ausgabe 07+08/2010 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 24 bis 25. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.