Reine Panikmache

Ludwig H. ist jetzt eine Berühmtheit. Der Düsseldorfer Rentner will Einspruch einlegen gegen die Abbildung seines Haus in Google Street View und ließ sich mit einigen Nachbarn von der „Rheinischen Post“ fotografieren. Vor seinem Haus. Die RP hat das Foto in ihrem Online-Angebot veröffentlicht, so dass jetzt die ganze Welt weiß, wie das Haus von dem Mann aussieht, der nicht will, dass die ganze Welt weiß, wie sein Haus aussieht.

Ausbeutung der Ahnungslosigkeit.

Es ist leicht, sich über H. lustig zu machen, der am nächsten Tag auf Nachfrage von „RP Online“ auch noch sagte, es sei ihm egal, was im Internet über ihn geschrieben werde, er habe gar kein Internet. Mehr noch als die Irrationalität und Ahnungslosigkeit vieler Bürger demonstriert das Beispiel, wie blind die Medien für die Folgen ihres eigenen Tuns sind und wie wenig Wert sie darauf legen, die Menschen klüger zu machen. Dass man die Adresse von H. im Telefonbuch findet, dass man damit, jetzt schon, Aufnahmen seines Hauses und seines Gartens aus der Vogelperspektive aus vier Himmelsrichtungen sehen kann (auf bing.com) und die Videoaufnahme einer Fahrt durch die Straße verfolgen (auf e-rent.de) – dass also die Verknüpfung verschiedener öffentlich zugänglicher Daten schon jetzt sehr viel mehr über Herrn H. verrät, als es Street View tun wird, das hat die „Rheinische Post“ ihren Lesern nicht verraten. Es dauerte auch mehrere Tage, bis „Bild“ in ihrer großen Berichterstattung über Street View endlich klar mit dem selbst mitproduzierten Missverständnis aufräumte, dass Google Live-Bilder aufnimmt. Die vielen Prominenten und Nicht-Prominenten, die sich in „Bild“ besorgt geäußert hatten, dass Details ihres Privatlebens oder ein Nackt-Sonnenbad im Garten im Internet landen könnten, müssen auch in Zukunft die Kameras von Google ungleich wenig fürchten als die der „Bild“-Paparazzi.

Es gibt viele gute Anlässe, sich Sorgen zu machen über all die Daten, die Unternehmen wie Google über uns sammeln, und die Möglichkeiten, die sich aus ihrer Verknüpfung ergeben. Dass gerade Street View solche gewaltige Reaktionen und mediale Aufmerksamkeit auslöst, liegt aber nicht daran, dass dieses Projekt besonders gefährlich ist oder einen besonders infamen Eingriff in unser Leben darstellt – das Gegenteil ist der Fall. Der Grund liegt allein darin, dass das Erfassen von Daten, das Eindringen in unsere vermeintliche Privatsphäre hier so anschaulich ist und sich das Thema dadurch so gut emotionalisieren lässt.

Es ist verräterisch, wie selten in den Medien der Begriff der „Panoramafreiheit“ auftaucht – ein (auch für Journalisten elementares) Recht, auch ohne Einwilligung der Besitzer oder Urheber öffentlich einsehbare Straßenansichten zu fotografieren. Ob das konkrete Vorgehen von Google vollständig durch dieses Recht, das bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht, gedeckt ist, ist juristisch umstritten. Aber die richtige Antwort auf die Empörung vieler Bürger, die dürfen doch nicht einfach unser Haus fotografieren und das dann kommerziell nutzen, wäre: Doch, das dürfen die. Und nicht: Ja, so böse ist Google.

Der gewisse Unterschied.

Viele Argumente gegen Street View sind reine Panikmache: Personalchefs sollen Bewerber künftig ablehnen, weil sie auf Fotos gesehen haben, dass die ihren Rasen nicht gemäht haben?

Natürlich ist es ein Unterschied, ob ich bloß das Recht habe, mir das Haus von jemandem, dessen Adresse ich kenne, anzusehen, indem ich vorbeifahre. Oder ob ich mir jederzeit von überall eine Aufnahme davon ansehen kann. Der Unterschied entsteht aber nicht durch die Skrupellosigkeit eines Unternehmens, sondern durch die Digitalisierung. Es ist derselbe Unterschied, der gelegentlich zu Problemen führt, wenn Zeitungsartikel, zum Beispiel über Straftäter, plötzlich dauerhaft öffentlich einsehbar sind. Für solche Konflikte zwischen verschiedenen Grundrechten müssen Lösungen gefunden werden. Die Dämonisierung von Zeitungsarchiven gehört nicht dazu.

Der „Donaukurier“ hat in Street View ein Thema gefunden, sich billig als Kämpfer für seine Leser in Szene zu setzen. Wie wenig er aber daran interessiert ist, auch von einem klaren eigenen Standpunkt aus umfassend und fair zu informieren, zeigt anschaulich das Video, das einen DK-Redakteur bei der Übergabe von Widersprüchen in der deutschen Google-Zentrale zeigt (0,25 Prozent der Leserschaft hatten auf eine entsprechende Aufforderung reagiert). Fast alle Antworten des Google-Sprechers auf die DK-Vorhaltungen wurden herausgeschnitten.

Erschienen in Ausgabe 09/2010 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 39 bis 39. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.