Der Preis des Polit-Castings

Herr Kurbjuweit, Ihr Buch über Angela Merkel trägt den Untertitel „Die Kanzlerin für alle“. Hätten Sie es nicht besser „Kanzlerinnen für alle“ nennen sollen? Denn ihre eigentlichen Überzeugungen kommen ja nicht zum Vorschein. Je nachdem, welches Thema gerade populär ist, schlüpft die Kanzlerin in die passende Rolle.

Dirk Kurbjuweit: Wir alle spielen gewisse Rollen, das ist zunächst einmal nichts Besonderes. Bei Angela Merkel ist das allerdings sehr ausgeprägt – leider. Sie klopft Themen ab, fragt sich ständig: Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung? Was sind die Themen, mit denen ich ankommen kann? Was passt zu meiner Politik, zu meiner Koalition? Hat sie dann ein Thema gefunden, setzt sie sich darauf. Sinkt die Zustimmung in der Bevölkerung wieder, lässt sie es wieder fallen. Als 2007 Klimaforscher im Weltklimarat eine Erwärmung um 3,5 Grad bis zum Jahr 2100 prophezeiten, wusste die Kanzlerin, dass mit solch dramatischen Zahlen leicht ein Konsens zu organisieren war. Sie wurde Klimakanzlerin. Und sie war gut. Der Auftritt beim Klimagipfel in Brüssel im selben Jahr war das Beste, was ich von ihr in der Politik gesehen habe. Dann stiegen 2008 die Energiepreise. Plötzlich war das Klimathema umstritten, die Bevölkerung murrte, es würde alles zu teuer werden. Da hat Frau Merkel das Thema wieder fallengelassen. Sie hat sich einfach der vorherrschenden Stimmung angeschmiegt. Wenn Sie wollen, können Sie dies das Casten von Themen nennen.

Politiker werden heute wöchentlich über Umfragen mit der öffentlichen Bewertung ihrer Arbeit konfrontiert. Ist es da überhaupt noch möglich, langfristige und mutige Politik zu machen?

Möglich ist es natürlich, man muss sich nur trauen. Eine Umfrage ist keine Wahl, man kann sie getrost ignorieren.

Tun das unsere Politiker?

Nein, das tun sie nicht, und zwar aus Angst. Sie haben Angst davor, dass sich die Stimmung hält und sie bei der nächsten Wahl tatsächlich abgewählt werden. Wenn die Popularität in den Umfragen sinkt, werden alle sofort hysterisch. Würden zum Beispiel die Umfragewerte der CDU unter 30 Prozent sinken, gäbe es sofort eine riesengroße Debatte in der Union, ob die Kanzlerin ihren Job gut macht oder ob nicht ein konservativeres Profil notwendig wäre. Derjenige, dessen Popularität sinkt, spürt größeren Widerstand in Partei und Medien. Da bedarf es natürlich einer großen inneren Kraft und Stärke, sich treu zu bleiben und an seinem Ziel und seiner Idee festzuhalten. Gerhard Schröder hat solchen Mut bewiesen. Als er die Agenda 2010 einbrachte, war klar, damit wird er nicht Umfragekönig. Trotzdem hat er sein Projekt durchgezogen.

Der „Spiegel“ macht auch selbst Umfragen, mit der Popularitätstreppe sogar eine besonders oberflächliche, die Politiker nach ihrer Beliebtheit bewertet.

Das sind nicht meine Lieblingsseiten im „Spiegel“.

Wenn es nach Ihnen ginge, würden Sie diese Seiten also abschaffen?

Nein, denn ich finde nicht die Umfragen schlecht, sondern die Politiker feige, die sich danach richten. Auf die Popularitätstreppe schauen viele Menschen, um sich zu informieren, wer ist gerade in, wer ist out. Aber von den Politikern erwarte ich die Souveränität zu sagen: „Das ist mir jetzt egal, ich mache trotzdem so weiter.“

Zur Bundestagswahl ließ die CDU-Politikerin Vera Lengsfeld auf einem Wahlplakat tief blicken. Unter dem Slogan „Wir haben mehr zu bieten“ posierten sie und Angela Merkel mit tiefem Dekolleté. Genialer Werbetrick oder peinlicher Versuch, sich den Casting-Stars dieser Nation anzugleichen?

Das war peinlich, absolut peinlich. Ich war entsetzt, als ich das gesehen habe. Und die Kanzlerin wohl auch, abgestimmt war es zumindest nicht. Busen sind keine politische Aussage. Frau Lengsfeld ist ja auch nicht gewählt worden. Große Brüste spielen vielleicht im Privaten eine Rolle, aber zum Glück nicht in der Politik.

Aber zeigt sich hier nicht ein Symptom dafür, dass auch deutsche Politiker das Private verstärkt instrumentalisieren?

Ja, auch die deutschen Politiker versuchen immer mehr mit Privatem in die Medien zu drängen. Ich persönlich fühle mich aber belästigt, wenn Herr Wowereit mir erzählen muss, dass er früher auch mit Mädchen geknutscht hat, oder Verteidigungsminister zu Guttenberg sich auf einem Plastikdinosaurier von seiner Frau anhimmeln lässt. Das ist eine Vermischung von Privatem und Politischem, die der Würde des Staates schadet. Privatleben darf kein Teil der Politik sein.

In Ihrem Essay „Sieg der Hässlichkeit“ haben Sie Politiker als Satzdesigner dargestellt, deren Hauptbeschäftigung es sei, medienkonforme Wortreihen zu basteln. Haben die Politiker im Zeitalter von Zwanzig-Sekunden-Statements überhaupt noch eine andere Wahl?

Ich verstehe schon, dass ein Politiker sehr vorsichtig ist mit seinen Worten, denn einzelne Sätze werden oft herausgegriffen und hysterisiert. Sie entfalten eine ungeheure Wirkung, weil andere Medien sie aufnehmen, kommentieren und dadurch verstärken. Da kann ein einziger Satz einen Politiker zu Fall bringen.

Ein Beispiel?

Kurt Beck. Er sagt nur einen Satz und verändert die ganze Bundesrepublik. Sofort. Er sagt in einer Gaststätte, dass Andrea Ypsilanti in Hessen freie Hand habe und mit den Linken koalieren könne. Und schon werden riesige Debatten losgetreten, schon taumelt die SPD, bis hin zum Sturz von Kurt Beck. Daran sind aber nicht die Medien schuld, sondern er ist es selbst. Ein Parteivorsitzender muss mit der Mediendemokratie umgehen können, seine Instrumente beherrschen, muss wissen, was so ein Satz auslösen kann. Das konnte Kurt Beck nicht. Deshalb wurde er gestürzt, und zwar zu Recht.

CSU-Politiker Karl-Theodor zu Guttenberg wurde mit einem Nein zu Staatshilfen für Opel an die Spitze der Beliebtheitsumfragen gespült, bekam zur Bundestagswahl ´09 mit 68,1 Prozent das beste Erststimmenergebnis. Warum wurde er schlagartig so beliebt?

Seine Beliebtheit hat vor allem einen traurigen Grund. Wir sehnen uns nach einem authentischen Politiker, der Überzeugungen hat und zu sich selbst steht. So hat ein Nicht-Ereignis aus Herrn zu Guttenberg über Nacht einen Star gemacht. Denn eigentlich war dieses Nein zu Opel kein echtes Nein. Er hat nur mit dem Rücktritt gespielt und ist am Ende doch nicht zurückgetreten, obwohl die Entscheidung gegen seinen Vorschlag fiel. Man kann ihm durchaus mangelndes Rückgrat vorwerfen. Und trotzdem war die Wirkung enorm. Die Menschen mussten nur das Wort „Rücktritt“ hören, um sofort zu denken: „Der wehrt sich. Der steht zu sich selbst. Der hat eine Idee.“ Ein Wort hat gereicht und ein neuer Polit-Star war geboren.

FDP-Parteichef Guido Westerwelle hat einen besonders krassen Rollenwechsel hinter sich. Jetzt ist er der seriöse Staatsmann, aber davor hat er nach allen Regeln der Casting-Gesellschaft gespielt, z.B. im Wahlkampf 2002 als Spaßpolitiker im Guidomobil. Warum war er trotzdem so unbeliebt?

Das war Überinszenierung. Er wollte sich anbiedern, in der damaligen Spaßzeit mitmischen, und hat sich zusammen mit ein paar Exhibitionisten in einen Container gehockt. Die Bevölkerung aber fand das gar nicht gut. Ein Politiker muss auch die Würde seines Amtes tragen. Da hat Westerwelle sich einfach vertan.

„Politik goes Pop“, schreibt ihr Vorgänger Jürgen Leinemann schreibt in seinem Buch „Höhenrausch“, die Medien dürste es nach „Drama, Kampf, Helden und Schurken“. Im „Spiegel“ spürt man ebenfalls ebenjenen Durst. Müssen Sie nach diesem Muster inszenieren?

Was heißt „wir inszenieren“?

Sie weisen den Politikern Rollen zu. Westerwelle wird der „Ungemochte“, Kurt Beck der „Forrest Gump der Politik“. Eigentlich nichts anderes als Casting, nur eben für die gebildeten Stände.

Das sind unsere Überschriften. Eine Überschrift zwingt noch niemanden in eine Rolle. Dahinter folgen ja Geschichten von drei bis zehn Seiten, die ein differenzierteres Bild der Person zeichnen.

In Ihrem Artikel „Der Schattenmann“ brandmarken Sie Philipp Mißfelder, den Vorsitzenden der Jungen
Union, als bedingungslosen Opportunisten, dem ein Auftritt im Fernsehen wichtiger sind als politische Visionen. Sie machen sich vom Beobachter zum Juror, richten Mißfelder regelrecht hin.

Eigentlich hat Philipp Mißfelder seinen Artikel im „Spiegel“ selbst geschrieben. Nicht ich bin sein Richter, sondern er. Wissen Sie, wie es zu dieser Geschichte kam? Vor eineinhalb Jahren wollte ich mich mit einem jungen Politiker über Max Webers Essay „Politik als Beruf“ unterhalten. Und da ich Philipp Mißfelder für den spannendsten und erfolgreichsten Politiker dieser Generation hielt, habe ich ihn gefragt. Wir trafen uns zum Essen, ich stellte ihm mein Projekt vor und er willigte ein. Bis zum nächsten Treffen wollten wir den Essay gelesen haben und dann über Eigenschaften wie Augenmaß und Vernunft in der heutigen Politik reden. Vier Wochen später trafen wir uns wieder. Doch er hatte das Buch nicht gelesen. Stattdessen erzählte er mir all diese Dinge: von den SMS der Kanzlerin, von seinem Machthunger, seinen gezielten Provokationen in den Medien. Hinterher habe ich gesagt: „Okay, das nächste Mal dann ‚Politik als Beruf‘.“ Aber auch beim nächsten Treffen das gleiche Bild: Buch gelesen? Nein. Neue Geschichten? Gern. Er hat sich seine Geschichte selbst ausgesucht.

Hätten Sie ihn dann nicht vor sich selbst schützen müssen?

Ich habe da eine Regel: Wenn ich mit jemandem rede, der den Medienbetrieb nicht kennt, schütze ich ihn. Wenn ich beispielsweise irgendwo in Mecklenburg-Vorpommern auf einen Bauern treffen würde, der mir erzählt, mit Adolf sei alles gar nicht so schlecht gewesen, dann wäre ich – je nach dem Kontext – sehr vorsichtig. Denn der Bauer kann sich nicht vorstellen, welche Wirkung das haben könnte. Aber Mißfelder ist ein totaler Medienprofi. Und wenn Herr Mißfelder meint, er müsse mir all die Geschichten erzählen, wird er auch eine bestimmte Absicht haben. Ich musste ihn ja nicht einmal etwas fragen, er erzählte von selbst.

Philipp Mißfelder als der neue Typus „Casting-Politiker“…

Er ist süchtig nach medialer Aufmerksamkeit. Er hat immer gesagt: „Ich weiß ja, es geht schlecht für mich aus, aber sechs Seiten im ‚Spiegel‘, das ist fantastisch. Kein anderer Politiker meiner Generation bekommt sechs Seiten im ‚Spiegel‘.“ Dass es kein Jubelartikel wird, wusste er, aber diesen Preis wollte er bezahlen.

Finden Sie eigentlich, dass das Essverhalten eines Politikers relevant ist? Sie schreiben zum Beispiel: „Mißfelder hat Hunger. Er stürzt sich auf einen Brotkorb und bestreicht seine Beute dick mit Butter.“ Sie gehen ausführlich auf sein Übergewicht ein. Ist das nicht unseriös und oberflächlich?

Nein, das ist nicht oberflächlich. Wir sind ja Reporter, wir schreiben Szenen. Mißfelder und ich haben uns meistens beim Essen gesehen und deshalb habe ich auch das beschrieben, zumal er das Essen und sein Gewicht dauernd thematisiert hat. Deshalb finde ich diese Szene in Ordnung.

Über seine Fähigkeiten als Vater schreiben Sie: „Seinem Kind wird er womöglich keine anderen Erfahrungen vermitteln können als die eines totalpolitischen Lebens“. Woher nehmen Sie das Recht zu solch einem Urteil?

Das ist der einzige Satz im Text, den ich bereue.

Sie haben auch Romane geschrieben. In Ihrem Buch „Nicht die ganze Wahrheit“ ist die Hauptfigur ein Privatdetektiv, der von sich sagt: „Ich bin der, vor dem die Leute hinter den Wänden Angst haben, der Entdecker.“ Steckt dahinter ein heimliches Selbstporträt? Kurbjuweit, der schonungslose Journalist?

Nein, überhaupt nicht. Es ist ein Roman, Arthur Koenen ist eine Kunstfigur, er ist ein Detektiv, der sich vor allem mit Ehebrüchen befasst. Mit ihm habe ich gar nichts zu tun. Der Roman ist für mich die Möglichkeit, in das Innerste eines Politikers vorzudringen. Ich weiß nicht, was in Angela Merkel vorgeht, oder wer Franz Müntefering wirklich ist. Aber dieser Roman erlaubt es mir auszudenken, wie es aussehen könnte im Innersten der Politiker. Und was die von Ihnen so genannte „Schonungslosigkeit“ angeht: Ich bin kein schonungsloser Journalist. Ich schreibe die Porträts, die die Politiker mir liefern. Ich versuche den Menschen zu erfassen, wie er ist, und das kann immer nur eine Annäherung sein. Auch Philipp Mißfelder hat mir eine Geschichte geliefert. Ich musste ihn ja nicht in eine Falle locken oder Fangfragen stellen, sondern das sprudelte, ungefragt. Und die härtesten Sachen lasse ich immer noch weg, weil es Dinge gibt, die aufzuschreiben mir widerstrebt.

Was schreiben Sie nicht?

Das sage ich Ihnen jetzt nicht, Sie sind ja auch Öffentlichkeit.

julia schwarz studiert Medienwissenschaft und Jura an der Universität Tübingen.

julia-sophie-s@web.de

Johann Schilling studiert Medien- und Politikwissenschaften an der Universität Tübingen.

johannjakobschilling@web.de

Tipp:

Das Interview ist ein für „medium magazin“ bearbeiteter Vorabdruck aus: Bernhard Pörksen und Wolfgang Krischke (Hrsg.): „Die Casting-Gesellschaft: Die Sucht nach Aufmerksamkeit und das Tribunal der Medien“, Herbert von Halem Verlag (Köln) 2010. www.casting-gesellschaft.de.

Das Gespräch fand Ende Dezember 2009 statt..

Erschienen in Ausgabe 10+11/2010 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 28 bis 31 Autor/en: Interview: Johann Schilling und Julia Schwarz. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.