Die Signale aus München: keine Tabus

Keine Auflagen-Kurven an der Wand, keine Layout-Skizzen an Magnetleisten, kein Zeitungshaufen auf dem Schreibtisch: Wer Wolfram Weimer besucht, betritt ein Chefredakteursbüro ohne jede Magazinmacher-Geschäftigkeit. Auf einem Beistelltisch stapeln sich Kunstbildbände, hinter dem Schreibtisch sind wuchtige Sachbücher drapiert wie im Bestseller-Regal einer Buchhandlung. Seit Helmut Markwort sich Ende September vom Chefredakteursstuhl auf den Posten des Herausgebers zurückgezogen hat, legt Weimer hier die inhaltlichen Linien von „Focus“ fest. Direkt in Griffweite hinter seinem Stuhl steht ein leuchtend rotes Buch im Regal: „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin.

Der neue Kurs.

Mit Weimer am Ruder hat sich „Focus“ in wenigen Wochen vom nüchternen Nachrichtenmagazin zur bürgerlichen Stimme gegen den Medienmainstream gewandelt. Berichten von „Heute-Journal“ bis „Süddeutsche Zeitung“ alle großen Medien wohlwollend über die Bürgerproteste gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 – der „Focus“ nennt die Demonstranten „Fundamentalisten“ und argumentiert, sie würden dem Fortschritt im Wege stehen. Erklärt der Bundespräsident den Islam zum Teil der deutschen Kultur, druckt der „Focus“ ein Plädoyer für die christliche Leitkultur. In den anderen Medien: einhellige Empörung über die Thesen des Ex-Bundesbankers Thilo Sarrazin zum Thema Integration. Im „Focus“: eine Titelgeschichte, inklusive exklusivem Interview mit dem „Tabu-Brecher“. Dass Weimer den „Focus“ in der Rolle der „bürgerlichen Stimme in diesem Land“, des „politischen Antagonisten“ des „Spiegel“ sieht (siehe Interview S. 18ff), merkt man dem Heft deutlich an.

Das und eine neue Freude an gestalterischen Experimenten. Das Heft beginnt seit wenigen Wochen mit drei doppelseitigen Fotos. In der Mitte breitet sich auf lachsrosa Grund eine Strecke mit Debattenbeiträgen externer Autoren aus. Auf der Titelseite erscheint der „Focus“ im Herbst sechs Wochen lang mit Doppelcovern – als erstes großes Kioskmagazin. Uli Baur, ein langjähriger Markwort-Vertrauter und neben dem Neuen Weimer die Konstante der Chefredakteurs-Doppelspitze, wirkt begeistert vom neuen kreativen Geist: „Wir hören nie wieder auf, uns verbessern zu wollen“, sagt Baur. Und: „Wir hätten das ein paar Jahre früher anfangen sollen, wenn man ehrlich ist.“

Verführerischer Nutzwert.

Dabei lief der „Focus“ nach seiner Gründung 1993 über 15 Jahre lang wie eine gut geölte Magazinmaschine. Nie rote Zahlen, auch in den größten Medienkrisen keine Entlassungen. „Früher galt: Wir haben Helmut Markwort, wir brauchen keinen Betriebsrat“, sagt die heutige Betriebsratschefin Gisela Haberer-Faye. Markworts Blattmacher-Konzept war scheinbar krisensicher: Mit bunter Optik und knappen Texten nahm er die Lesegewohnheiten der ersten Internetnutzer-Generation vorweg („Fakten, Fakten, Fakten“). Später setzte er auf Nutzwertjournalismus. Der „Focus“ erschien mit so banal anmutenden Titeln wie „Yoga gegen Stress und Schmerzen“, „Neue schöne Zähne“ und „Die Männer-Diät“. Doch die Auflage war konstant hoch. „Die Nutzwerttitel waren ein bisschen verführerisch. Die haben jahrelang funktioniert und alle haben uns das nachgemacht“, erinnert sich Baur.

Als 2009 der „Focus“-Einzelverkauf mehrmals unter die 100.000er Marke fiel, reagierten Baur und Markwort. Sie bildeten in der Redaktion Arbeitsgruppen, die Ideen für einen grunderneuerten „Focus“ entwickelten. Im Januar 2010 wurden die Ergebnisse umgesetzt. Der Relaunch habe die Richtung vorgegeben, die der „Focus“ jetzt gehe, sagt Baur. Veränderungen habe es vor allem beim Layout gegeben, sagt dagegen ein ehemaliger „Focus“-Redakteur, der damals dabei war: „Man musste das Gefühl haben, es ändert sich nicht viel.“

Die Veränderung kam wenig später: Die Mitarbeiter gründeten erstmals einen Betriebsrat und die Chefredaktion Markwort/Baur kündigte einen Personalabbau an. „Wir haben auch 2009 keine roten Zahlen geschrieben. Aber es gab eine Tendenz“, so Baur. Die Chefredaktion legte ein großzügiges Abfindungsprogramm auf. 64 Mitarbeiter nahmen an, rund 25 davon aus der Redaktion. „Das war kein goldener Handschlag, aber auch kein Fußtritt“, meint Betriebsrätin Haberer-Faye.

Das neue Duo.

Was die übrig gebliebenen Redakteure nun vor allem leisten sollen – die Antwort auf diese Frage fällt unterschiedlich aus, je nachdem mit welchem der zwei Chefredakteure man gerade spricht. Ihn interessiere die Einordnung der großen Themen, nicht so sehr die kleine Exklusivmeldung, die dpa aufgreife, meint Weimer. „Enthüllungen und exklusive Meldungen sind ein Muss“, sagt Baur. Weimer erklärt, er möchte in Zukunft auf reine Service-Titel verzichten, auch wenn sie noch immer hohe Auflagen bringen. Baur stellt klar: „Auch News to use sind in bestimmten Formen weiter möglich.“ Weimer: „Fakten stehen heute im Internet.“ Baur: „Woher hat das Internet seine Nachrichten, wenn nicht von uns.“

Die Zusammenarbeit mit dem Chefredakteurskollegen Weimer mache „uns beiden viel Spaß“, sagt Baur. „Helmut Markwort und ich werden uns immer siezen – das ist einfach schon Kult. Zu Wolfram Weimer sage ich ‚du‘.“

Immerhin, der neue Kurs zeigt erste Erfolge. Das Heft mit der positiven Titelgeschichte über Thilo Sarrazin verkaufte sich am Kiosk 123.104 Mal – so gut, wie seit Monaten keine „Focus“-Ausgabe mehr. Wenn auch noch weit entfernt vom „Spiegel“: Mit dem Sarrazin-Titel, zeitgleich zu „Focus“, setzte der Spiegel im Einzelverkauf genau 410.829 Hefte ab.

Erschienen in Ausgabe 10+11/2010 in der Rubrik „Titel“ auf Seite 22 bis 22 Autor/en: Bernhard Hübner. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.