Geht doch nach drüben

Die Medien haben einen Hauptfeind und ich wohne mittendrin: in Berlin-Mitte oder auch Prenzlauer Berg. Seit Jahren werden diese Stadtteile von Reportern heimgesucht, die dann ganz traurig feststellen, dass dort kaum noch „alte Ossis“ wohnen, sondern wohlhabende Zugezogene, die mit einem Apple-Rechner im Café sitzen und biologisch angebauten Kaffee trinken. Beides scheinen Indizien für ein grundlegend falsches Leben zu sein. Man nennt das Phänomen „Gentrifizierung“ und in New York oder London ist es seit Jahrzehnten an der Tagesordnung: Runtergekommene Wohngegenden werden von einer jungen, kreativen Klientel, die kein Geld für die besseren Viertel hat, zu neuem Leben erweckt. Nach einer Zeit kommen die besser Verdienenden auf den Geschmack, die Wohnungen werden saniert und zu Eigentum, mit den Alteingesessenen verschwindet auch ein Teil des Charmes. Soweit das Klischee, das im Falle des Prenzlauer Bergs mit einer medialen Inbrunst verbreitet wird, die Staunen lässt und bei der selbst vernünftige gesellschaftliche Veränderungen zu Indizien für ein völlig falsches Leben werden: im Bio-Supermarkt zu kaufen oder sich seinen Kindern zu widmen und ihnen womöglich auch noch Holzspielzeug zu schenken, gelten in den feuilletonistischen Reportagen dieser Tage als schwerste Verirrungen und Abkommen vom authentischen Weg.

Werte-Verwirrung bei der „Zeit“.

Die „Zeit“ prägte einst in einem Anfall von Werte-Verwirrung den Begriff des „Bionade-Biedermeiers“ und belächelte die Menschen, die statt pestizidbelastetem Obst beim Türken lieber im Bio-Supermarkt kaufen. Die FAZ imaginierte sich neulich in eine Zukunft, in der mit Yoga und Therapien gequälte Kinder dereinst ihre alt gewordenen Eltern in deren Dachgeschossen besuchen – und „GEO“ stellte neulich Fotos einer Straße in Prenzlauer Berg gegenüber – von vor 20 Jahren und heute. Und siehe da: Es sieht ganz anders aus. Dazu beschrieb der Reporter sein Unwohlsein angesichts des Verschwindens bröckelnder Fassaden und alter Ost-Identität und des Umstands, dass vor den Cafés junge deutsche Schauspieler an Fruchtsäften nippen.

Zufälligerweise wohne ich gleich neben der Straße, die in „GEO“ als Beispiel für die böse Gentrifizierung herhält. Und man muss schon genau weggucken, wenn man sich die durchgekaute These ausgerechnet hier noch mal bestätigen lassen will. Es gibt in dieser Straße auf einer Länge von 500 Metern tatsächlich ein wenig zu viele Stehcafés mit Latte-Macchiato-Ausschank, aber eben auch einen schon in der DDR gegründeten Gemüseladen, einen uralten Bäcker, einen Fahrradladen, zwei Blumenläden, ein billiges portugiesisches Restaurant, zwei Vietnamimbisse, einen Laden für Reinigungsbedarf, einen Automaten-Waschsalon, ein Reisebüro und eine Säuferkneipe, wo das Berliner Prolo-Getränk Futschi 2,50 Euro kostet. Eigentlich eine schöne Mischung, die aber so gar nicht in die vorgefertigten Stanzen der Gentrifizierungskritiker passt.

Schade, dabei könnte man in Magazinen und Zeitungen einen genaueren Blick auf die Gesellschaft durchaus brauchen. Denn natürlich ist es bizarr, wenn Kinder für manche Eltern zum überbehüteten Lebensinhalt werden und Menschen auf Hartz-IV ihre alten Wohnungen verlassen müssen – nur ist das alles eben bei weitem kein Phänomen des Prenzlauer Bergs oder von Berlin Mitte, sondern auch von Hamburg-Eimsbüttel oder München-Schwabing, wenn nicht der ganzen Republik. Es sind die Verwerfungen einer Gesellschaft, in der auf vier Erwachsene gerade noch ein Kind kommt und in der die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter aufgeht. Darüber zu räsonieren, würde sich lohnen.

Offenbarter Selbsthass?

Stattdessen aber schreiben die Reporter von „Zeit“, FAZ, SZ oder „GEO“ im Falle Berlins lieber voneinander ab und wenn man weiß, dass viele dieser Reporter genau das Leben führen, das sie so inbrünstig anprangern, offenbart sich da eine Art Selbsthass – der Argwohn der eigenen Saturiertheit gegenüber, das Bedauern der verpassten Chance, irgendwann in seinem Leben mal echte Solidarität gegenüber schlechter Gestellten geübt zu haben. Das wird nun wortgewaltig nachgeholt, indem man über das neue Bürgertum in Prenzlauer Berg herfällt und dabei sämtliche soziologische Trennschärfe über Bord schmeißt. Womöglich ist das der Preis dafür, dass in vielen Redaktionen viele Redakteure sitzen, die in den pragmatischen 80ern studiert haben, als ein Soziologie- oder Psychologie-Studium so anerkannt war wie ein Taxischein. Diese jahrzehntelange Negierung ganzer Fachbereiche bringt nun diese journalistischen Zirkusnummern hervor, die immer wieder ihr Publikum finden, die aber von einer stupiden intellektuellen Trägheit zeugen.

Erschienen in Ausgabe 10+11/2010 in der Rubrik „Rubriken“ auf Seite 53 bis 53. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.